01.12.2015Matthias Dohmen
Buch des Monats: Heinrich Wolfgang Seidels „Drei Stunden hinter Berlin“
Warum den Inhalt neu beschreiben, wenn schon der Verlag gute Arbeit geleistet hat? Im „Klappentext“ heißt es: „Wir schreiben das Jahr 1902. Ein ganzes Jahr lang berichtet Heinrich Wolfgang Seidel in Briefen seinen Eltern in Groß-Lichterfelde (heute Berlin) ‚tausend traurige und lustige Geschichten‘. Er erlebt sie im uckermärkischen Flecken Boitzenburg, wo Pfarrer Dreising den jungen Vikar in seinen Beruf einführt. Über den Häusern thront das Schloss der Arnims. Graf Dietlof ist Kirchenpatron und nimmt diese Aufgabe sehr ernst. Feste werden gefeiert, wie sie fallen. Die Beerdigung von Kindern und Selbstmördern verleiht dem Alltagsleben tragische Züge. Einmal hält Seidel im benachbarten Kröchlendorff den Gottesdienst, und nach dem anschließenden Mittagessen im Schloss zeichnet er das Tischgespräch mit der Gutsherrin auf. Sie heißt auch Arnim und ist Otto von Bismarcks Schwester.“
Den chronologisch geordneten Briefen schließen sich knapp 30 Seiten Tagbucheintragungen an. Die Texte sind optimal erschlossen, und zwar über ein Personal- und Ortsverzeichnis, über zahlreiche Erläuterungen sowie „Schilderungen bestimmter Ereignisse und Vorgänge“ (Beispiel: „Lektüre, Literarisches“ oder „Theologisches“ – Stichworte und die zugehörigen Daten der Briefe). Last but not least das sehr einfühlsame Nachwort des Herausgebers, der den persönlichen, theologischen und literarischen Werdegang Heinrich Wolfgang Seidels schildert.
Seidel, der sich der Bekennenden Kirche anschloss, brach mit Börries von Münchhausen, als dieser einen Eintritt in den PEN-Klub ablehnte, weil dessen Vorsitzender Gottfried Benn Jude sei. Über die Familie kam er früh in Kontakt zu Schriftstellern wie Theodor Fontane, der in seinen Augen etwas willkürlich mit Fakten umging (Seite 302), und verehrte den in die Emigration getriebenen Heinrich Heine (S. 277 f.). Von den Nazis hielt er sich konsequenter fern als Ina, die sich zwar weigerte, Mitglied der NSDAP zu werden, jedoch Huldigungen an Adolf Hitler veröffentlichte, den sie vom Nationalsozialismus zu trennen versuchte. Ihre „politische Naivität“ habe sie „nach Kriegsende bitter beklagt“, bemerkt Goebel auf S. 458.
Zeitlebens stand Heinrich Wolfgang im Schatten seiner Frau und seines Vaters, schrieb Tilmann Spreckelsen über die Erstausgabe der Briefe im Insel-Verlag und fuhr seinerzeit fort: „Die Briefe aus dem Vikariat aber sind geeignet, in ihm einen Schriftsteller von beträchtlicher Formulierungsgabe und einigem Unterhaltungswert entdecken zu lassen.“ Dem kann man sich uneingeschränkt anschließen. So macht er sich am 25. September 1902 über eine Dame lustig, die einen Tag Felix Dahn und den nächsten Theodor Storm liest, die ihr beide bedeutend vorkommen (S. 286).
Das Buch, das erstmalig 1951 herauskam (noch herausgegeben von Ina Seidel), erhielt schon vor seinem Erscheinen den Adolf-Stahr-Preis zugesprochen (siehe etwa http://www.uckermaerkischer-geschichtsverein.de/aktivitaeten/adolf-stahr-preis). Verlag und Herausgeber sind zu beglückwünschen.
MATTHIAS DOHMEN
Heinrich Wolfgang Seidel, Drei Stunden hinter Berlin. Briefe aus dem Vikariat. Hrsgg. von Klaus Goebel, Husum: Husumer Druck- und Verlagsgesellschaft 2015 (= Husum-Taschenbuch), ISBN 978-3-89876-770-5, 495 S., Euro 19,95, www.verlagsgruppe.de.
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