Die Schere im Kopf

Parteien und Presse verschweigen Fakten und Zuständigkeiten beim Schwebebahn-Stillstand

Charles de Montesquieu schildert in dem Briefroman, „Lettres persanes“ im Jahr 1721 die gesellschaftlichen Zustände Frankreichs aus der fiktiven Sicht zweier Persischer Reisender. Er veröffentlicht anonym, das Werk wird umgehend verboten. Kein Wunder, denn diese berühmte Erstveröffentlichung übt Kritik am französischen Absolutismus, indem mit einer Mischung aus Staunen, Kopfschütteln, Spott und Missbilligung den Daheimgebliebenen über die politischen Zustände berichtet wird.

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Wie schön wäre es doch, wenn ein wenig aufklärerischer Geist auch in Wuppertal wehte.

Da in dieser Hinsicht die lokale Presse sehr zu wünschen übrig lässt, will ich in die Bresche springen. Schließlich komme ich auch aus einem fernen Land, Niedersachsen, habe in der Fremde gelebt, Guatemala und Österreich, kenne bürgerkriegsähnliche Zustände, Sudan, und freue mich, nun in einem Land mit „Demokratie“ zu leben.

Heute schlage ich die Zeitung auf und sehe das hübsche Bild eines Fahrradfahrers mit angestrengtem roten Gesicht. Man liest, dass die zugeneigte politische Ortsgruppe mit ihm einen Ausflug unternommen hat. Er möchte Oberbürgermeister bleiben. Der örtliche Radiosender lädt ihn und sechs weitere Bewerber in eine Arena ein. Sieben Kurzvideos sollen das Wahlvolk auf die Diskussion dort einstimmen. Ich höre dort erstaunliche Antworten auf simple Fragen: Was machen Sie in der Freizeit? Kampfsport! Nach einem so tiefen Einblick in das Wollen und Können der ersten sechs fehlt mir noch der siebte Streich. Aber den unabhängigen Kandidaten hat das Radio abgehängt. Leider nicht hochgeladen. Macht nichts, dafür sehe ich ja seit einer Woche überall den Mann mit dem roten Gesicht.

Letzte Woche ging es auch ums Fahrradfahren in der Zeitung. Das ist im Moment populär, da das Wuppertaler Wunderwerk der Technik, die 118 Jahre alte Schwebebahn, nicht fährt. Da nicht anzunehmen ist, dass die Stadtwerke die rundum renovierte Bahn nochmal in Bewegung setzt, fordert die Jugend eine Umweltspur auf der Bundesstraße. Außer den Liberalen, die Autos lieben, stimmen ihnen alle weiteren Parteien zu. Auf der Bundesstraße sollen bitte die Busse, Taxen und Elektroautos hinter den Fahrrädern her fahren, denn die darf man nur mit meterweisem Abstand überholen. Das wird sicherlich zur Entlastung des innerstädtischen Verkehrs beitragen. Eigentlich hatten die Parteien bereits einen Beschluss zum Fahrradfahren in der bergischen Stadt getroffen, aber so etwas vergisst man leicht, wenn Wahlkampf ist und die anwesenden sechs Jugendlichen vehement etwas anderes fordern.

Gestern abend sprach ich dann mit meinem Mann nochmal über den Schwebebahn-Totalausfall. Geduldig erklärte er mir, ich bin ja schließlich kein Ingenieur, dass diese Bahn neu konstruierte Räder bekommen hat. Eigentlich war das unnötig, denn die alten haben 100 Jahre lang fehlerfrei funktioniert. Dennoch, die neue Generation bekam Vollräder, weniger Nutzlast und dieselbe Geschwindigkeit wie die alte Bahn. Das nennt man wohl Fortschritt. Die Vollräder haben eine andere Materialqualität und ein anderes Profil als die alten Radreifen. Solche Veränderungen bedürfen aufwändiger Probe- und Rechenverfahren. Gut, dass das jetzt nachgeholt wird. Das ganze nächste Jahr darf die WSW also Probefahren und Rechnen üben. Mit leeren Waggons.

Warum das keiner vorher erledigt hat, wollte ich noch wissen. Angeblich weiß niemand, wer zuständig ist. Ach, die WSW hat einen Aufsichtsrat. Und einen Aufsichtsratsvorsitzenden, der hat Krankenpfleger gelernt und sitzt nun als Freund des rotgesichtigen Mannes im Landtag und im Aufsichtsrat. Wenn das mal nicht zu viel Verantwortung ist. Das letzte Wort bei allen Entscheidungen hat aber die Gesellschafterversammlung. Und das ist wieder einmal der rotgesichtige Mann, er vertritt nämlich 99% der Gesellschafter.

Also ich fühle mich sehr gut infomiert. Die lokale Presse teilt mir die absolut wichtigsten Dinge mit: Der wichtigste Entscheidungsträger bei der Schwebebahn fährt gerne Fahrrad und hat gute Freunde. Kritisieren kann ihn niemand, weil die Presse dafür sorgt, dass unabhängige demokratische Personen kein Rederecht bekommen. Die Jugend fährt auch gerne Fahrrad und liebt ihn dafür.

copyright: Dr. Christine Leithäuser

Aber denke ich an Wuppertal in der Nacht, werde ich um den Verstand gebracht. 2016: 44 Mio Euro Verlust, 2017: 51 Mio Euro Verlust, 2018: 53 Mio Euro Verlust, 2019: 60 Mio Euro Verlust. 2020 ? Nur WSW. „Die Gemeinden haben ihr Vermögen und ihre Einkünfte so zu verwalten, daß die Gemeindefinanzen gesund bleiben. Auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Abgabepflichtigen ist Rücksicht zu nehmen.“ Das sagt die Gemeindeordnung in §10. Und in §108 heißt es „Die Gemeinde darf Unternehmen und Einrichtungen in einer Rechtsform des privaten Rechts nur gründen oder sich daran beteiligen, wenn die Gemeinde sich nicht zur Übernahme von Verlusten in unbestimmter oder unangemessener Höhe verpflichtet, und die Gemeinde einen angemessenen Einfluß, insbesondere in einem Überwachungsorgan, erhält und dieser durch Gesellschaftsvertrag, Satzung oder in anderer Weise gesichert wird.“

Es geht nicht nur um den Stillstand der Schwebebahn. Die ganze Stadt entwickelt sich zurück. In den Absolutismus. La ville, c‘est moi.

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Kommentare

  1. Susanne Zweig sagt:

    Nicht, dass ich etwas falsch verstehe: Sie schlagen also die Zeitung auf (welche auch immer), die Sie offensichtlich gekauft haben, obwohl die lokale Presse viel zu wünschen übrig lässt. Darin finden Sie einen Mann mit einem roten Gesicht. Nennen wir ihn Herrn M. Sie mögen keine Männer mit rotem Gesicht, wenn sie das rote Gesicht vom Radfahren bekommen haben. Und dann fordert die Jugend eine Umweltspur. Welche Jugend erfahren wir nicht, aber offensichtlich zählen Sie Herrn M. dazu, was ihn sicherlich freuen wird. Neben der Jugend sind alle Parteien für die dumme Umweltspur außer den wackeren Liberalen. Die Partei von Herrn M. weiß entweder noch nicht, dass sie auch dafür ist oder sie zählt einfach nicht. Und die Probleme der Schwebebahn lassen Sie sich von Ihrem Mann erklären, weil Sie keine Ingenieurin sind. Ob Ihr Mann wenigstens Ingenieur ist, erfahren wir auch nicht, ist aber auch nicht nötig. Schließlich werden wir von Ihnen aufgeklärt…

    Wie gut, dass wir jetzt endlich alle Bescheid wissen und uns nicht mehr auf die lokale Presse verlassen müssen 🙂

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