07.07.2016Wilma Schrader
Was wäre wenn? Drei spekulative Zukunftsszenarien für die Mirke
Carsten nennt sich Zukunftsforscher sagt aber gleichzeitig: „Jede Prognose ist falsch!“ Als ausgebildeter Stadtgeograph hatte er den ministerialen Auftrag, den Baukulturatlas 2030/2050 zu erstellen. In einem 2,5 jährigen Forschungsprojekt hat er gemeinsam mit Matthias Böttger und Ludwig Engel untersucht, wie Stadt- bzw. Bauplanung unter den aktuellen komplexen Bedingungen ablaufen könnte und zu welchen Ergebnissen sie führen könnte. Nicht die gebaute Umwelt stand im Fokus der Untersuchungen, sondern die gelebte Umwelt. Seine These, dass keine Vorhersage möglich sei, führte zu einem Verfahren, welches Carsten spekulative Planung nennt. Gemeinsam mit einer Vielzahl von Experten haben er und seine Kollegen untersucht, welche grundlegenden gesellschaftlichen und technischen Strömungen zukunftsbestimmend werden können und welche Szenarien vorstellbar wären.
Herausgekommen sind: Integralland, Netzland und Wattland. Kurz umrissen bilden alle 3 Szenarien heute schon ablesbare Tendenzen ab: wie die immer lauter werdende Forderung der Bürger nach mehr Teilhabe, die Konzentration von strukturrelevanten Technologien in der Hand weniger Megakonzerne und die Frage nach der Energieherstellung.
Integralland ist dabei die Vorstellung einer durch bürgerschaftliches Engagement geprägten Demokratie, die durch autonome Bürgerparlamente gesteuert wird. Energie wird aus regenerativen Quellen gewonnen, der Bildungsstandard ist hoch.
Im Wattland lebt eine energiehungrige Wissensgesellschaft, in der das Watt als knappes Gut den Euro abgelöst hat. Nur wer Energie besitzt und herstellen kann, ist reich und kann es sich leisten, sich aus den Metropolräumen auf das Land zurück zu ziehen.
Netzland bedeutet eine Gesellschaft in der Hand von wenigen Unternehmen, die Energie, Wasser, Handel, Kommunikation und Mobilität kontrollieren. Entlang der Trassen bilden sich einige wenige Megacities.
Welche Auswirkungen könnten die 3 Szenarien nun auf Wuppertal, auf die Mirke, oder auf den Utopiastadtcampus haben? Mit diesen Vorstellungen gleichermaßen geimpft, waren 3 Gruppen eingeladen, an 3 Tischen ihre eigenen Zukunftsszenarien für die Mirke zu entwickeln. Während im Wattland die Siedlungsstruktur in Barmen und in Elberfeld weiter verdichtet wird, die gründerzeitlichen Bauten in der Nordstadt wegen schlechter Energieffizienz abgerissen und durch Neubauten ersetzt werden, wird der Bereich Mirker Hain weiter aufgeforstet und ein Verfahren entwickelt, aus Pflanzen Energie zu gewinnen. Im Netzland laufen die Trassen an Wuppertal vorbei. Die Stadt wird zu einer Aussteigerstadt, in der sich die Menschen selbst mit Nahrung versorgen. Der Utopiastadtcampus wird zu einer Windfarm. Im Integralland ist Wuppertal eine prosperierende Stadt, in der Bürgerparlamente die Quartiere demokratisch steuern. Zahlreiche Bildungsinstitute haben sich angesiedelt. Utopiastadt wird ein Ort für die Entwicklung kreativer, gesellschaftsrelevanter Impulse, auf dem Campus haben sich Handwerkerhöfe und zahlreiche Start-Ups angesiedelt. Außerdem ist ein Areal für den Anbau von Nahrung für die Nahversorgung vorgesehen. Alle Gruppen haben unabhängig voneinander das Quartier autofrei gedacht.
Und was genau sollen solche gemeinschaftlichen ‚Geschichtenspinnereien‘ nun bewirken? Carsten und die Verantwortlichen des Forum: Mirke verfolgen damit den Ansatz der „Erinnerung an die Zukunft“. Sie wollen Zukunftsmodelle denken, um den Keim dafür in die Jetztzeit zu holen. Mit den Menschen im Quartier wollen sie mit solchen Formaten üben, gemeinsame Bilder zu entwickeln und ein Nachdenken darüber ermöglichen, wie das direkte Umfeld gestaltet werden könnte. Und sie wollen Wissen vermitteln welches die Bürger im Quartier in die Lage versetzt, ihre Geschicke selbst aktiv in die Hand zu nehmen. Das braucht Zeit, Phantasie und jede Menge Anschub. Thomas Weyland: „Es geht darum, deutlich zu machen, dass es unterschiedlichste Denkmodelle für die Entwicklung des Quartiers gibt. Sie alle brauchen Raum und Zeit. Wir wollen eine Art Stadtumbau-Salon gründen. Diese Veranstaltung war die erste einer Serie, die wir planen“ und weiter: „Das Gelände um den Mirker Bahnhof herum, gehört der Aurelis. Leider liegt ein enormer Druck auf dem Areal. Eigentlich bräuchten wir, wie für den Bahnhof damals, eine Art Moratorium, etwas, was uns Zeit gibt, um zum Beispiel Machbarkeitsstudien durchzuführen, alternative Finanzierungsmodelle durchzuspielen und uns mit städtebaulichen Verfahren auseinanderzusetzen. Wir wollen die Fläche aktiv gestalten und als Ziel ein Modell entwickeln, welches eine Art „Quartiersrendite“ beinhaltet. Das wiederum könnte als Blaupause für andere Quartiere dienen.“
Auch das Wuppertal Institut und das TransZent (Zentrum für Transformationsforschung und Nachhaltigkeit), befasst mit dem bis 2018 laufenden Forschungsprojekt „Wohlstands-Transformation Wuppertal, beteiligt sich an der Weiterentwicklung des Mirker Quartiers. Matthias Wanner, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt: „Neben einer kritischen Begleitung des Forum:Mirke haben wir eine sogenannte Coforschungs-Gruppe ins Leben gerufen, in der Studierende und Praxispartner vor Ort zusammenarbeiten. Beispielsweise gibt es jetzt eine Studienarbeit zu einem „Lehrpfad der Nachhaltigkeit“, ein umfangreiches Konzept zur langsamen und gemeinwohlorientierten Entwicklung der Freiflächen an der Nordbahntrasse. So wird eine nachhaltige Stadtentwicklung vom Wuppertal Institut auf allen Ebenen begleitet: in Quartieren wie der Mirke, dem Arrenberg, auf Landes- und Bundesebene und natürlich auch im globalen Kontext. In diesem Jahr findet die Habitat III statt – die alle 20 Jahre stattfindende UN-Siedlungs-Konferenz. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung‚ Globale Umweltveränderungen (WBGU), in dem auch Uwe Schneidewind und ich als sein Referent mitarbeiten, hat als Beitrag ein umfangreiches Gutachten zur „transformativen Kraft der Städte“ vorgelegt. Es sind drei zentrale Felder, die als Kompass für die Entwicklung einer neuen Lebensqualität in Städten dienen. Das sind der Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen, substanzielle, ökonomische und politische Teilhabe und die Ausformung von Eigenart. Dafür zu sorgen, dass diese drei Faktoren berücksichtigt und umgesetzt werden, ist ein Beitrag den Wissenschaft leisten kann – eine, wie sie das Wuppertal Institut versteht.“
Das Forum:Mirke ist eine alternative Stadtteilkonferenz, die sich seit 3 Jahren mit Stadtentwicklung beschäftigt. Beteiligt sind zahlreiche Initiativen und Organisationen wie die Alte Feuerwache, das ADA, Anadolu e.V., Utopiastadt, Hebebühne und andere. Die nächsten Termine sind der 11.8., 10.10. und 13.12.2016. Die Orte wechseln. Bei Interesse bitte bei Inge Grau melden.
Wer sich ausführlich über das Thema informieren will, dem sei das schön gestaltete und umfassende Buch „Spekulation Transformation“ ans Herz gelegt. Es dokumentiert das Ergebnis der 2,5 jährigen Forschungsarbeit von Stefan Carsten und Kollegen. Zu erhalten ist es über den Glücksbuchladen (Tel.: 0202 / 372 900 58) in der Friedrichstraße und natürlich auch über alle anderen örtlichen Buchläden. Oder der besucht die Homepage.
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