Autor des Monats: Hanns-Josef Ortheil

Ein Mann beschreibt die Gegenwart, indem er aus seinen privaten, ins Öffentliche gewendeten Erfahrungen berichtet und sie romanhaft verarbeitet: die Zeit der Eltern im Berlin der 1930er-Jahre, die Nachkriegsjahre, schließlich die Wende 1989/1990.

„Ortheil hat im Gegensatz zu den meisten seiner Schriftstellerkollegen keine Scheu vor Happy End und großer Liebe“, hat ihm Maria Frisé 2009 in der FAZ attestiert. Sie bezog sich damals auf die vielfach gelobte „Erfindung des Lebens“, den autobiographischen Roman über ein jahrelang stummes Kind, dessen Eltern in Krieg und Nachkriegszeit vier Söhne verloren. Zusammen mit seiner ebenfalls stummen Mutter wächst es in beinahe vollkommener Isolation von anderen Menschen auf, aus der es sich erst langsam durch das geliebte Klavierspiel und den unorthodoxen Sprachunterricht des Vaters etwas befreien kann (Klappentext). Die eindringlich erzählte Geschichte beginnt in Köln und endet in Rom.                     ortheil-erfindung

Der 1951 in Köln als Sohn eines Geodäten und einer Bibliothekarin geborene Autor erzählt davon, wie es seinem Vater Schritt um Schritt gelang, „mir das Schreiben, Lesen und Sprechen beizubringen und mir dabei jene Freude an der Schrift und am schriftlichen Ausdruck zu vermitteln, die mich schließlich zu einem täglichen, kleinen Schreiber und Notierer machte“, wie der Schriftsteller, Drehbuchautor, Germanist und Hochschullehrer (wikipedia) im Vorwort zu dem 2014 wieder aufgelegten und ursprünglich 1996 erschienenen literarischen Tagebuch „Blauer Weg“ schreibt.

Ihm geht es um die „Reibungen von privatem und politischem Erleben“ (Seite 11), die bei ihm zwischen einem „insgesamt glücklich erscheinenden („blauen“) Weg“ und dem „schwarzen Weg“ einer „tiefen Trauer, die mich nach dem Tod meines Vaters im Jahr 1988 erfasst hatte“ (S. 20), oszilliert. Ortheil verfällt in eine tiefe Depression, die er auch Desertion nennt, aus der er sich mühsam herausarbeiten muss.ortheil-blauerweg

Er begegnet in den Jahren der Wende Schriftstellerkollegen wie Wolfgang Hilbig und Gert Neumann, vor allem aber der sehr produktiven Monika Maron, die ihrerseits die Kolleginnen und Kollegen der alten DDR „verwöhnt“ nennt (S. 109). Mit ihren Augen sieht er auch Stefan Heym, der seiner großen Enttäuschung über das Volk „jetzt ganz offen“ Ausdruck verleiht (S. 108). Das ist sicherlich eine verkürzte Sicht auf einen Mann, der genau jenen Mut vor Königsthronen unter Beweis gestellt hat, den Maron und Ortheil zu Recht vom Intellektuellen einfordern.

Um einen Bericht der besonderen Art handelt es sich bei der „Berlinreise“, dem – so der Untertitel – „Roman eines Nachgeborenen“. Nämlich die Aufzeichnungen des Zwölfjährigen, der 1964 mit seinem Vater die alte Reichshauptstadt besucht. Im Wesentlichen ist der Text unverändert und wurde nicht im Nachhinein korrigiert: „Der kindliche Ton der Darstellung sollte … mit all seinen Eigentümlichkeiten, Fehlern und Kuriosa erhalten bleiben“ (S. 8). Und der faszinierenden Vermischung von Privatem und Öffentlichem, so wenn er den Internationalen Frühschoppen mit Werner Höfer beschreibt („eine richtig politische Unterhaltung“, S. 160) oder der 1. FC Köln ins Blickfeld gerät (Postkarte an die Mutter: „Es ist schon etwas traurig, aber wir freuen uns auch auf die Rückkehr und darauf, das der FC morgen deutscher Meister wird“, S. 273).ortheil-berlinreise

Der „Bub“, der 6. November im Ada liest, ist nun 50 Jahre älter. Er sei, auch von dieser Stelle aus, herzlich begrüßt im Tal der Wupper.

MATTHIAS DOHMEN

 

 

Hanns-Josef Ortheil, Die Erfindung de Lebens. Roman, München: Luchterhand 122009, ISBN 978-3-630-87296-4, 591 S., Euro 22,99, www.randomhouse.de/luchterhand.

Hanns-Josef Ortheil, Blauer Weg, München: Luchterhand 2014, ISBN 978-3-630-87444-9, 591 S., Euro 22,99.

Hanns-Josef Ortheil, Die Berlinreise. Roman eines Nachgeborenen, München: Luchterhand 82014, ISBN 978-3-630-87430-2, 591 S., Euro 16,99.

 

 

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