09.11.2015Matthias Dohmen
Buch der Woche: „Als wir Räuber und Gendarm spielten“
Sie vermitteln anschaulich, wie es damals war, ein Kind zu sein. Ein Lesevergnügen für die Jüngeren, die die Zeit auf diese Weise kennenlernen können, und für die älteren Semester, die sich an das eine oder andere Spiel selbst erinnern werden.
So bei Renate Mahlberg (Bad Münstereifel) und Erni Flohr (Raststatt). Mahlberg kennen bergische Leser von ihrer Mitarbeit am Kalender „Stille Orte 2014“, der bei Nacke herauskam und ihre Gedichte sowie Fotos von Elisabeth Heinemann enthielt.
Mahlberg schreibt über ihre kindlichen Spiele mit dem Nachbarsjungen Heinzchen, der zwei Kaninchen besaß, die von den Kindern Adenauer und Heuss genannt wurden. Gern spielten sie im „Geheinmnisstübchen“. Dabei handelte es sich um den Raum „von Heinzchens im Krieg verschollenem und nicht heimgekehrten Onkel“ (Seite 208). Es war Nachkrieg.
An einen jüdischen Spielkameraden erinnert Erna-Maria Flohr. Von ihrer Patentante bekam sie einen bunten Kreisel geschenkt, einen „Tanzknopf“. Als ihr einmal die Schnur des geliebten Spielgerätes riss, besorgte ihr ein jüdischer Junge aus der Nachbarschaft Ersatz im Laden seines Vaters. Die beiden wurden richtig gute Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander, und jedes Mal, wenn die Schnur wieder kaputt ging, gab es Nachschub. Eines Tages klingelte der Junge an Erni Flohrs Tür, und übergab der Mutter eine Tüte mit Schnüren. Er hatte es eilig: „Schnell lief er über den Platz. Dort stand ein großer Lastwagen, und Vater Nathan, seine Frau Sarah und der kleine Nathan mussten aufsteigen“ (S. 39). Endstation Konzentrationslager.
Bücher haben ihre Schicksale. Renate Mahlberg, die bisher mit dem Roman „Zwischen Zeiten“ (2002) sowie den Gedichtbänden „Die Stille durchbrechen“ (2000) und „Das Vorbeifliegende festhalten“ (2013) hervorgetreten ist, bekam im Sommer dieses Jahres Post vom Zeitgut-Verlag, der sich auf ihre Einsendung von vor 16 (!) Jahren bezog, als die nunmehr realisierte Anthologie aus irgendwelchen Gründen nicht zustande kam.
Der heutigen Jugend mag es wie Steinzeit vorkommen: „Räuber und Gendarm“, „Vater, Mutter, Kind“ oder „Himmel und Hölle“ – bei diesen Spielen werden Erinnerungen an vergangene Kindheitstage lebendig. Damals, als die Straße noch Spielplatz war, genügten ein Stück Kreide für die Hopse, ein paar Murmeln oder ein Springseil. Als die Kinderzimmer noch nicht überquollen, war die Phantasie viel mehr gefragt – und sie kannte keine Grenzen. Die Geschichten in diesem Buch erzählen von unbeschwerten Spielen und Abenteuern, die Kinder gemeinsam mit ihren Freunden erlebten, und von allerlei Begebenheiten, die sich damals zugetragen haben, auch wenn das Ende oft von Kräften und Mächten bestimmt wurde, die nicht auf Eintracht, sondern Zwietracht sannen und die nicht auf Frieden, sondern auf Krieg aus waren.
MATTHIAS DOHMEN
Jürgen Kleindienst/Ingrid Hantke (Hrsg.), Als wir Räuber und Gendarm spielten. 32 Erinnerungen von Kindern an ihre Spiele – 1930-1968, Berlin: Zeitgut 2015 (= Zeitgut-Taschenbuch, 29), ISBN: 3-86614-226-9, 256 S., Euro 10,90, www.zeitgut.com.
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