Buch der Woche: Band I von Ursula Langkau-Alex’ Standardwerk
Der Rezensent gesteht: Auf Seite 204 musste er kapitulieren. Eine Veröffentlichung von derartiger inhaltlicher Tiefe und geradezu der Sucht nach Differenzierung, mit dem Vermerk auf hunderte, wenn nicht tausende Dokumente, Zeitschriftenbeiträge, Polemiken, Stellungnahmen, persönliche Diffamierungen usw. usf. ist ihm selten unter die Augen gekommen. Die restlichen 150 Seiten werde ich mir auch noch „hereinziehen“, aber erst einmal ist eine schriftliche Bilanz nötig: Der „Redaktionsschluss“ war überfällig.
Man hat ja Vieles schon gewusst oder geahnt, aber in dieser umfassenden Darstellung noch nicht zur Kenntnis nehmen dürfen: Zum Beispiel, „dass sich der Annäherungsprozess zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten in Paris außerhalb des unmittelbaren Zugriffs von ‚Prag’ und ‚Moskau’ vollzog“ (Seite XI), wobei Prag für den Exilvorstand der SPD steht (Sopade) und Moskau für das ZK der KPD. Die praktische antifaschistische Arbeit zwang die Vertreter beider Parteien – nicht zu vergessen: unter dem nützlichen Zwang bedeutender Geistesschaffender wie Heinrich und Thomas Mann sowie vieler Anderer, denen Langkau-Alex ein Denkmal gesetzt hat – sich vielfach zu einigen und aufeinander zuzugehen, doch fielen sie lange Zeit und einige sogar für immer in alte böse Der-Andere-ist-schuld-Muster zurück: Bei der letzten Reichspräsidentenwahl in Weimar richtete die KPD den „Hauptstoß politisch gegen die Sozialdemokratie“ („Anfang 1932 jedenfalls galten der KPD Nationalsozialismus und Sozialdemokratie als Zwillinge“, S. 7), während maßgebliche Sozialdemokraten von einem „fanatischen Hass“ gegen die Kommunisten getrieben wurden (Wilhelm Abegg, Staatssekretär in Preußen, DDP, Reichsbanner, zit. auf S. 9) und die SPD innerhalb der Sozialistischen Internationale „stets auf dem Flügel der Gegner einer wie auch immer gearteten Zusammenarbeit mit den Kommunisten stand“ (S. 99).
Hoch anzurechnen ist der Autorin, dass sie sehr differenziert und differenzierend auf die so genannten Zwischengruppen eingeht, von denen es in Weimar – Fluch und Segen – sehr viele gab, die sich nicht von den großen Parteien vereinnahmen ließen, wie etwa die aus dem Bund Neues Vaterland hervorgegangene Deutsche Liga für Menschenrechte (eine frühe Vorbotin der deutsch-französischen Verständigung), die Deutsche Friedensgesellschaft, die SAP, die Revolutionären Pazifisten, die Gruppe Neu Beginnen, die IAH, den Schutzverband Deutscher Schriftsteller beziehungsweise die Opposition im Schutzverband Deutscher Schriftsteller (OSDS). Über alle diese Verbände und Grüppchen gibt es eigene Darstellungen (nicht selten aus der Schule von Wolfgang Abendroth), aber in ihrer Interaktivität sind sie nirgendwo so lebensnah beschrieben worden wie hier.
Daneben verdanken wir Langkau-Alex auch begriffliche Klärungen wie diejenige im Umfeld von Exil/Emigration/Flucht (Thomas Mann wird „im Exil zum Emigranten“, vgl. S. 41) und überhaupt der Klassifizierungen: Wenn man „auszählt“, wie viele Sozialdemokraten, Kommunisten und Juden 1933 beispielsweise ins Saargebiet und später nach Frankreich gingen: Was ist mit den jüdischen Kommunisten und den sozialdemokratischen Juden? Wer zählt zu welcher Gruppe (etwa S. 59 bis 62)?
Bemerkenswert vor dem Hintergrund der deutschen Nachkrieg-II-Diskussionen sind die Ausführungen über den Antifaschismus-Begrifflichkeiten etwa von Johannes R. Becher (Beispiel: S. 107 – zur Praxis vgl. S. 128). Damit korrespondiert Leopold Schwarzschilds Diktum einer Koalition – ich nenne sie mal bewusst eine Koalition der Willigen – mit Überbreite, die zu umfassen hatte „Kommunisten und Katholiken, Korpsstudenten und Gemüsehändler, Intellektuelle und Junker, Arbeiter und Stahlhelmer“ (zit. S. 167). Wichtig sind auch die Brückenschläge zur bürgerlichen und christlichen Intelligenz, die Saar-Frage, das Beleuchten von Personen wie George W. F. Hallgarten oder Willi Eichler, aber auch einer „Skala von Walter Ulbricht bis Otto Strasser“ (S. 199). Lesen, Leute, lesen! MATTHIAS DOHMEN
P. S. Die Autorin hat mich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass ich den Akademie-Verlag bei njuuz.de vor einigen Tagen fälschlich mit dem Epitheton „Ostberlin“ versehen hatte. In geographischer Hinsicht mag das weiter so sein, abgesehen davon, dass es die Einrichtung seit rund zehn Jahren nicht mehr gibt. Aber politisch-inhaltlich ging „Ostberlin“ 1990/1991 unter. Weiß man ja.
Ursula Langkau-Alex, Deutsche Volksfront 1932-1939. Zwischen Berlin, Paris, Prag und Moskau. Bd. I: Vorgeschichte und Gründung des Ausschusses zur Vorbereitung einer deutschen Volksfront, Berlin: Akademie 2004, 358 S. (zu Verlag, alt und neu, sowie der Verfügbarkeit siehe den Beitrag am 17. Mai).
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