Buch der Woche: Dorothea Müllers Knastgeschichte „Tom“
Es wäre auch kaum daran zu denken, dass sein Leben, wenn er denn in Freiheit kommt, eine positive Wendung nähme, gäbe es nicht den Herrn Schulte, der ihn, Tom, regelmäßig besucht und quasi für ihn bürgt, obwohl der Häftling den ihm unbekannten Besuch beim ersten Mal mit aggressiven blöden Sprüchen abfertigt – und existierten nicht zwei ausländische Mitgefangene, die ihn akzeptieren.
Die Bedingungen, unter denen die Knackis leben und die in der Vorbemerkung von Erhard Ufermann vielleicht einen Tick (aber nur einen Tick) zu kritisch beurteilt werden, sind oft genug entwürdigend: „Es kotzt Tom immer wieder neu an. Das kommt davon, wenn man sein Leben verkackt hat, da schnüffelt jeder in allem herum. Schreibt Berichte, gibt Beurteilungen ab, stellt gute oder schlechte Prognosen“ (Seite 120).
Doch schwierig ist das Leben hinter hohen Mauern auch für die Vollzugsbeamten, die Schließer, die Pförtner und die für die Sicherheit Zuständigen. Wie überall im Leben gibt es auch hier Menschen, die ihrem Frust freien Lauf lassen, und solche, die einem Ethos folgen wie „Papa Witt“, der Tom helfen will, den starke Zahnschmerzen plagen: „Leider darf der ihm keine Tabletten geben. Das verstößt gegen die Dienstvorschrift. Witt hat ihm Nelken mitgebracht, getrocknete, aus dem Gewürzschrank seiner Frau. Von Nelken steht nichts in der Dienstvorschrift“ (S. 42).
Halb zog sie ihn, halb sank er hin: Tom holt im Gefängnis seinen Hauptschulabschluss nach. Schritt um Schritt – bei herben Rückschlägen – nimmt er für sich selbst Verantwortung auf und bereitet sich auf ein Leben in Bewährung vor.
Mehr soll von der packend geschriebenen Geschichte nicht verraten werden, die bis zum Schluss offen bleibt. Zweifellos sind in die Story langjährige persönliche Erfahrungen der Autorin, die den Knastalltag als Betreuerin kennengelernt hat, eingeflossen. Aber es ist kein weinerliches Buch entstanden, das einseitig Stellung nähme. Tom, der wie viele seiner Kollegen aus „schwierigen Familienverhältnissen“ stammt und dennoch lernen muss, mit seinem Leben und der Gesellschaft klar zu kommen, ist wie aus Fleisch und Blut.
Erwähnenswert sind das dem Roman sich anschließende „Knacki-Wörterbuch“ von Umschluss über Vormelder bis „Sittiche“ sowie längere Auszüge aus dem Strafvollzugsgesetz. Schließlich hat Frank Müller ein beeindruckendes Cover und zahlreiche Illustrationen geliefert.
Wer immer jemals als Betreuer, Arbeitsgruppenleiter oder in anderer Funktion regelmäßig im Knast war, aber abends die Luft ungesiebt genießen kann, wird Müller ein hohes Maß an Authentizität der Schilderung zubilligen. Auch, dass sie ein Stück Literatur geschaffen hat. Was will man mehr?
MATTHIAS DOHMEN
Dorothea Müller, Tom. Eine Knastgeschichte, Bedburg: Verlag 3.0 2015, ISBN 978-3-95667-203-3, 165 S., Euro 9,50, www.buch-ist-mehr.de.
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