Der gewitzte Durchschnittsmensch

Roman eins: Ein Mann trifft eine Frau, und darüber verfasst er eine Geschichte – eine, die korrigiert wird und in Varianten stattfindet. Roman zwei: Mir nichts, dir nichts verschwindet ein durchschnittlicher Familienvater: Bücher der Woche des Schweizer Autors Peter Stamm.

„Agnes“ lautet der Titel der Geschichte, in der ein Schriftsteller aus der Schweiz und eine deutlich jüngere Doktorandin in Chicago ein Verhältnis eingehen, das scheitert, als sie schwanger wird. Sie trennen sich, kommen aber, nachdem sie das Baby verloren hat, wieder zusammen.

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Aber es wächst nicht mehr zusammen, was zusammen gehört. Auch nicht die europäische und die US-amerikanische Sozialisation. Agnes’ Vater bringt es auf den Punkt: „Ihr Schriftsteller denkt immer viel zu weit. Ich bin Geschäftsmann. Ich weiß, was die Welt bewegt“ (Seite 146).

„Weit über das Land“ treibt es Thomas, der eines Tages seine Frau Astrid und die beiden Kinder verlässt. Er ist „ein sehr ausgeglichener Mensch, ein Durchschnittsmensch, wie er selbst manchmal sagte“ (S. 25), und so glaubt seine Frau erst einmal nicht an die Endgültigkeit der Trennung und hält – das ist witzig beschrieben – auch die Firma des Gatten eine Zeit lang mit Ausreden hin.

Die Ereignisse schildert Stamm mal aus ihrer und mal aus seiner Perspektive, sehr reizvoll dann, wenn der Leser ein Ereignis aus seinem Blickwinkel erzählt bekommt, das er aus ihrer Sicht längst kennt. Kurios auch sein unfreiwilliger Besuch eines Bordells, dem „geilsten Club der Ostschweiz“, bei dem es eine Bonuskarte gibt.

Die Polizei „findet“ ihn schließlich tot auf. Erst am Ende stellt sich heraus, dass er unter falschem Namen weitergelebt hat und nach 20 Jahren zu Astrid zurückkehrt. Die Philosophie des Romans: „Eine Kleinigkeit hätte genügt, und alles wäre anders gekommen. Wenn an jenem letzten Ferientag Thomas statt Astrid nach Konrad geschaut, wenn sie die Banktransaktionen früher geprüft, wenn der Suchhund mehr Ausdauer gehabt hätte“ (S. 175).

Sehr lakonisch erzählt der 1963 geborene Autor, den ein Rezensent der „Süddeutschen“ einen „Virtuosen des doppelbödigen Alltags“ genannt hat. Man legt seine Bücher so schnell nicht aus der Hand, der Spannungsbogen hält bis zum bitteren oder guten Ende, man leidet und freut sich mit den Hauptpersonen.

Am 9. Juni ist Stamm Gast der Reihe „Literatur auf der Insel“, im Elberfelder Ada. Dort kann man ihn befragen, wie er seine Geschichten konzipiert und ob er eine message hat oder, wahrscheinlicher, gleich mehrere. Wenn der Mann nur halb so spannend erzählt, wie er seine Plots entwickelt, wird sich der Besuch unbedingt lohnen.                                                                                     MATTHIAS DOHMEN

 

 

Peter Stamm, Agnes. Roman, Frankfurt am Main: Fischer 42014 (= Fischer-Taschenbibliothek), ISBN 978-3-596-51151-8, 154 S., Euro 9,00, www.fischerverlage.de.

Peter Stamm, Weit über das Land. Roman, Frankfurt am Main: Fischer 32016, ISBN 978-3-10-002227-1, 223 S., Euro 19,99.

 

 

 

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