„Dieß schreibt Dir aus liebendem Herzen“

Den berühmten Lehrer und Reformpädagogen Adolph Diesterweg, dessen Familie eine Zeitlang in Elberfeld gewohnt hat, lernen wir in einer Sammlung von Briefen hauptsächlich seiner Frau Sabine kennen: Unser Buch des Monats Juli.

Herausgegeben hat diese äußerst wichtigen „historischen Dokumente, die das Alltagsleben festhalten“ (Seite 7), der Wuppertaler Historiker und Freund der Literatur Klaus Goebel. Tatsächlich war die handgeschriebene Epistel in einer Zeit, die noch kein Telefon, geschweige denn Handy, SMS & Co. kannte, ein Dokument ersten Ranges, die im gegebenen glücklichen Fall das Leben einer bürgerlichen deutschen Familie Mitte des 19. Jahrhunderts beschreibt – einer „patriarchalisch dominierten Gesellschaft“, wie es ebda. im Vorwort heißt.

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Krankheiten, Feiern, reisen: Die am 2. Februar 1793 in Wetzlar geborene Sabine Enslin hält Alltägliches und Besonderes in den Briefen an ihre Kinder handschriftlich fest – und Nachrichten über den ihr angetrauten Adolph, mit dem sie „eine Liebe auf den ersten Blick“ verbindet, „die mehr als fünfzig Jahre überdauern sollte“ (S. 9).

Die Ansichten des großen Pädagogen, dem die herrschende Reaktion und die drohende „Pöbelherrschaft“ gleichermaßen ein Gräuel waren, lernen wir in diesen einmaligen Texten kennen. Diesterweg, dessen Anschauungen über eine strikte Trennung von Kirche und Schule Mitte der 1920er-Jahre in der Weimarer Republik sowie den schulreformatorischen Initiativen der jungen und der späteren Bundesrepublik, aber auch auf dem Boden der DDR wieder auflebten, haben bis auf den heutigen Tag ihre Aktualität nicht verloren.

Wie das Leben so spielt: Die Wendung „Dieß schreibt Dir aus liebendem Herzen“, die dem Buch den Titel gab, stammt aus einem Brief Sabine Diesterwegs an den Sohn Moritz (den späteren Verleger), der offensichtlich über seine Verhältnisse lebt: „Darum habe ich die geheime Sorge und es wird mir oft so bange, wenn ich an deine Zukunft denke, da Du bis jetzt immer noch mehr verbraucht hast, als es Deine Verhältnisse gestatteten“ (Brief 33, S. 174). Zeitkolorit vermitteln auch die über den Band verstreuten Fotos und Holzstiche beispielsweise über eine Begegnung Adolph Diesterwegs mit dem „Erfinder“ des Kindergartens, Friedrich Fröbel, aus dem Archiv des Herausgebers (S. 91).

Mit bitteren Worten beschreibt Sabine Diesterweg die Leiden, welche der Krieg über die Kombattanten und die Zivilbevölkerung bringt: „Man fängt ohne Not keinen Krieg an und schickt seine Landeskinder in Schlachten, wo sie zerstümmelt und getötet werden oder elend umkommen. Wenn ich noch an den Krieg in der Krim denke, wo die armen Menschen auf den Schlachtfeldern verwundet wurden und ohne Hilfe im Wasser und Eis liegend umkommen und ihren Geist aufgeben müssen! Dann schaudert mir die Haut! und ich bin empört!“ (Brief 31 vom 13.6.1859, S. 165).

Es gibt also noch, Verlag und Herausgeber sei Dank, das gute Buch: in einer gut lesbaren Schrift, mit zahlreichen Beigaben, einer zu den Dokumenten hinführenden Einleitung, Registern und Übersichten, Verzeichnis von Quellen und Literatur sowie 40 Seiten „Erläuterungen zu den einzelnen Briefen“, in denen Goebel Sachinformationen zum Inhalt oder auch aus nicht abgedruckten Briefen sowie zu formalen Fragen der einzelnen Briefe (Siegel, Faltung usw.) präsentiert. Auf Fußnoten, die leicht den Eindruck nahelegen, die Edition sei nichts für den Laien, kann Goebel auf diese Weise verzichten. Sehr hübsch sind die „Nachbemerkungen der Urenkelin“ Lotte Köhler, in denen sie die in ihrer Familie gepflegten Ideale der Gerechtigkeit und der Verpflichtung, für sozial Schwächere zu sorgen, hervorhebt, aber auch „die Tugenden Tue recht und scheue niemanden und Bürgerstolz vor Königsthronen“ (S. 311).

Dokumente und Selbstzeugnisse von Frauen sind für das 19. Jahrhundert wenig überliefert – die Historiographie jener Jahre interessierte sich überdies für Schlachten und Könige, Staatsaffären und „große Politik“. Deren Opfer Adolph Diesterweg wird, als er 1847 „seiner hartnäckig behaupteten oppositionellen Haltung und regierungsfeindlichen Gesinnung wegen“ seiner Funktion als Seminardirektor enthoben wird. Der emsige und nimmermüde Historiker Klaus Goebel, 1934 in Wuppertal geboren, hat das Buch seiner Frau Bärbel gewidmet. Zuletzt publizierte er den Briefwechsel zwischen Reinhold Schneider und Rudolf Alexander Schröder (Der dunkle Glockenton, 2014, www.njuuz.de/beitrag27954.html) und Heinrich Wolfgang Seidels Briefe aus dem Vikariat (Drei Stunden hinter Berlin, 2015, www.njuuz.de/beitrag33198.html). Was für eine Ernte!

 

MATTHIAS DOHMEN

 

Dieß schreibt Dir aus liebendem Herzen. Briefe von Sabine Diesterweg und ihrer Familie, hrsgg. von Klaus Goebel, Göttingen: Wallstein 2016, ISBN 978-3-8353-1928-8, 335 S., Euro 19,90, www.wallstein-verlag.de.

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