Doppelt-einseitige Geschichtsschreibung

Ganz großes Historiographiekino: Franka Maubach und Christina Morina legen im renommierten Wallstein-Verlag ihr Kompendium „Das 20. Jahrhundert erzählen“ vor. Unser (leicht vorgezogenes) Buch des Monats November 2016.

Es steht in einem lockeren Zusammenhang mit einer 2013 in Jena stattgefundenen Tagung, über die es eine gute Zusammenfassung auf h/soz/kult gibt (www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4816). Bei der hier angezeigten Publikation handelt es sich inklusive Vor- und Nachwort, einer umfangreichen Bibliographie sowie Personen-, Werk- und Ortsregister um ein Handbuch zur deutsch-deutschen Geschichtsschreibung im besten Sinne.

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Tatsache ist: „Zeithistoriker im geteilten Deutschland verstanden sich hüben wie drüben auffällig oft als engagierte, kritische, ja ‚politische Historiker mit Anspruch auf Deutungskompetenz’“ (Jürgen John, zit. auf Seite 15), was auf westlicher Seite schon darin zum Ausdruck kam, dass führende Historiker Reden auf den 17.-Juni-Gedenkfeiern im Deutschen Bundestag hielten, während im Osten die Geschichtswissenschaft die DDR als – alleinigen – Erben der besten Traditionen der deutschen Geschichte zu feiern hatte.

Die „konkurrierende“ Geschichtsschreibung wird abgearbeitet am Ersten Weltkrieg (Matthew Stibbe), der Novemberrevolution (Klaus Latzel), dem Jahr 1933 (Franka Maubach), dem Zweiten Weltkrieg (Christina Morina), dem Holocaust (Annette Leo), den deutsch-deutschen Historikerdialogen vor 1989 (Christoph Kleßmann) und nach der Wende (Krijn Thijs) sowie der Mauer „als Erfahrung und Sujet“ (Marion Detjen).

Alle Achtung: Es ist Maubach und Morina, die eine noch knapp im Osten, die andere noch knapp im Westen groß geworden, gelungen, Autoren zu verpflichten, die auf eine höchst wohltuende Art und Weise den einzelnen Geschichtswissenschaftlern und ihrer je individuellen Leistung gerecht werden, etwa wenn der Brite Stibbe die Weltkrieg-I-Erzählungen von Gerhard Ritter und Fritz Fischer, der im Herzen ja auch ein Konservativer war, sowie von Fritz Klein und Willibald Gutsche kritisch referiert. „Einig im Willen, den Krieg zu verhindern“ stand als Überschrift über einem Artikel Kleins im „Neuen Deutschland“ über die Aufgaben der Historiker … in beiden deutschen Staaten (S. 69).

Deren Thesen sind, wie Klaus Latzel schreibt, „Bestandteil der Sinnproduktion der Gesellschaft“ (S. 92), wie er am Beispiel Karl Dietrich Erdmanns und Peter von Oertzens (alte BRD) und Albert Schreiners und Wolfgang Ruges (DDR) zeigt. Großartig, wie Maubach in ihrem Beitrag „‚Wie es dazu kommen konnte’. 1933 als Fluchtpunkt deutsch-deutscher Ursachensuche im frühen Kalten Krieg“ Positionen westlicher und östlicher Kollegen gegenüberstellt: Sie beleuchtet den „Übergang von Versuchen der Verständigung (am Beispiel von Alexander Abusch und Friedrich Meinecke) zu deren Abbruch (am Beispiel von Ernst Engelberg und Gerhard Ritter)“ (S. 149). Abusch sinnierte übrigens in einem 1945 abgeschickten Brief an Heinrich Mann über den Anteil an Verantwortung der Antifaschisten am Untergang von Weimar: „Gerade weil die Hitlergegner damals so stark waren, ist ihre Mitverantwortung so groß“ (zit. S. 158). Bemerkenswert, wie sich die beiden wichtigen Vordenker einander annäherten („Der Traum von der Einheit aller Hitlergegner“, Zwischenüberschrift auf S. 159). Vorübergehend.

Vor dem Fall der Mauer war, beide Deutschlands im Blick, zeitweise das Wort von der Ökumene der Historiker populär. Lang ist’s her. Von der zu früh verstorbenen Helga Schultz stammt das Bild, dass Atlas, die berühmte Figur aus der griechischen Mythologie, „die Welt nicht nur auf der rechten Schulter tragen“ kann („Europäischer Sozialismus“, S. 484).

 

MATTHIAS DOHMEN

 

Franka Maubach/Christina Morina (Hrsg.), Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen: Wallstein 2016 (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, 21), ISBN 978-3-8353-1707-9, 508 S., Euro 42 Euro, www.wallstein-verlag.de.

 

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