Ein Chef der fast ungewöhnlichen Sorte

Ein furioser Start und ein melancholisches Ende, auch zwischendrin allerlei Gereimtes über Gott und die Welt prägen den neuen Gedichtband von Matthias Rürup.

Das Buch „Chefchen. Eine Höllenfahrt“, das jetzt im Geest-Verlag erschienen ist, lehnt sich dem Titel wie der Struktur nach an die „Göttliche Komödie“ an – mit aller Schwere und Ernsthaftigkeit des Abstiegs in die Hölle und des Aufstiegs daraus ins Paradies, zugleich diese Schwere ironisch-hinterfragend und doppelbödig verschiebend. Schon das „Chefchen“ selbst ist eine Figur, die aus dem Rahmen fällt, weil der Boss eines Unternehmens, sei es kaufmännischer, sei es politischer, sei es künstlerischer Art, sich kaum von selbst ins Diminutiv setzen lässt. Es geht ein Chefchen auf die Reise hinab ins persönliche Inferno und über den Läuterungsberg hinauf ins eigene Paradies. Wenn es denn klappt.

Denn es herrscht eine arge Konkurrenz an der Spitze. Die Luft wird dünner, auch „wächst die Anzahl derer, die hinauf wollen mit / Einem langen Atem & übergroßen Lungenflügeln“ („Chefchen unter Geiern“, S. 12). Mittendrin spießt Rürup die Gesundheitsbranche auf („Soll ich fragen meinen / Arzt oder Apotheker“ – „Chefchens Rezept“, S. 66), und am Ende geht es der Hauptfigur, hinter der man ein Alterego des Autors wittert, wie Sisyphos in der griechischen Mythologie: „Am Ende bleibt uns nur ein vager Blick zurück, / Der Weg war kurvenreich und lang und schwer, / Jetzt ist’s vorbei! Das muss als Trost genügen“, wie es zum „Abschied“ auf S. 117 heißt.

Wir bewegen uns durch eine Welt des Mittelmanagements und des Mittelmaßes, gespickt mit herrlich ironisch gemalten Büro- und Schreibtischutensilien, Blechdosen, Menschen zu Pferd und allerlei Getier anstatt durch das Dantesche biblisch-mittelalterliche Szenario der großen Ideen und Namen. Statt der einen vorgegeben-feststehenden Ordnung durch eine Welt der Verunsicherung und des sich tastend Vergewisserns. Dreimal dreiunddreißig Etappen und eine weitere sind es – wie bei dem großen Italiener -, und am Ende wartet natürlich die Erlösung. Was auch immer das heute ist.

Himmel und Hölle sind 700 Jahre nach Dantes Alighieris Tod sicherlich noch bedeutungsvolle Metaphern für angstvoll vermiedene Abgründe der Verzweiflung und trotz aller Skepsis weiterbestehende, naiv-ursprüngliche Sehnsüchte nach einem ungestört reinen Glück. Ansonsten aber ist vieles, vielleicht sogar alles an diesen Bildern und Wünschen heute unklar geworden und klärungsbedürftig, hat jede und jeder einen eigenen Abgrund und einen eigenen Himmel. Dem opulent illustrierten Gedichtband im Mehrfahrdruck liegt ein von Robert Voss gestaltetes großformatiges Faltblatt bei, das einen Blick auf unsere Welt gestattet, in der mehr zerstört als aufgebaut wird. Dem Teufelchen unten links rät der Kritiker besondere Aufmerksamkeit zu widmen.

Alles in allem also einhundert Gedichte in der klassischen Danteschen Dreiteilung, dreimal 33 plus 1, wenn auch nicht so streng wie beim Meister.

Rürup, 1972 geborener Erziehungswissenschaftler an der Wuppertaler Universität und „Chefchen“ des hiesigen Literaturhauses, leidet an den Zuständen: Ein Ich, das sich belügt und betrügt. Im mittleren Teil erleben wir Therapieversuche, die aber selten und nur vorübergehend Heilung versprechen. Keine souverän lernende Instanz. Der Autor ist klüger als das sprechende Ich, Rezensent und Leser dreimal schlauer. Am „Chefchen“ hat Rürup lange gearbeitet: Vor acht bis zehn Jahren entstanden die ersten Texte.

In der alten DDR durchlief Rürup 1988 bis 1990 eine Ausbildung zum Wirtschaftskaufmann in den Walter-Ulbricht-Werken (Leuna) und unternahm erste literarische Gehversuche im „Zirkel schreibender Arbeiter“, der zum „Bitterfelder Weg“ gehörte, dem im Westen der „Arbeitskreis Literatur der Arbeitswelt“ entsprach. Beide noch vor Ende der 1980er-Jahre perdu. Zu Schriftstellerkollegen, die ihn beeinflusst haben, zählt Rürup Bertolt Brecht, Milan Kundera, Heiner Müller und Arno Schmidt sowie die Kurzgeschichtenmeister Musil und Joyce. Der wie Rürup in Halle (Saale) geborene Robert Voss ist Träger zahlreicher Auszeichnungen und Preise und hat bislang in Finnland, Österreich, Polen, den USA und in Deutschland ausgestellt. Rürup und Voss sind befreundet und haben sich offensichtlich zu Höchstleistungen inspiriert.

Wie Rürup sich wünschen mag, dass das Buch gelesen wird: als ein Strauß von Gedanken, kurzen Texte, Kalenderblättern. Finde den Fehler. Und zieh deine Konsequenzen.                  MATTHIAS DOHMEN

 

 

Matthias Rürup, Chefchen. Eine Höllenfahrt. Mit Bildern von Robert Voss, Vechta: Geest 2022, 120 Seiten, ISBN 978-3-86685-892-3, 28,00 Euro.

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