14.03.2016Matthias Dohmen
In memoriam Helga Schultz
Die am 16. August 1941 geborene Mittelalter- und Berlin- sowie Wirtschafts- und Sozialhistorikerin lehrte zuletzt bis zu ihrer Emeritierung in Frankfurt an der Oder sowie als Gast in Göteborg und Posen.
2014 konnte sie ihr programmatisches Werk „Europäischer Sozialismus – immer anders“ abschließen, in dem sie „Karl Kautsky – George Bernard Shaw – Jean Jaurès – Józef Piłsudski – Alexander Stambolijski – Wladimir Medem – Leo Trotzki – Otto Bauer – Andreu Nin – Josip Broz Tito – Herbert Marcuse – Alva und Gunnar Myrdal“, so der Untertitel des im Berliner Wissenschaftsverlag (BWV) herausgekommenen Buchs, vorgestellt hat. Der Titel des „Monumentalwerks neuen biographischen Erzählstils“ (Prof. Dr. Dagmara Jajeśniak-Quast, Inhaberin der Professur für interdiszplinäre Polenstudien an der Europa-Universität Viadrina, ehemalige Doktorandin von Prof. em. Schultz – www.europa-uni.de/de/struktur/unileitung/pressestelle/medieninformation/38-2016/index.html) war Programm: Die große Idee der Emanzipation der nichtkapitalistischen sozialen Klassen ist nicht mit dem Abgang des realen Sozialismus gestorben, der nicht zuletzt an seiner Eindimensionalität zugrunde ging.
In der „Besten Zeit“ erschien in der Ausgabe 33/2015 auf S. 90 unter der Überschrift „Eiferer und Gelehrte“ die folgende Besprechung ihres Hauptwerkes:
Geschichte des Sozialismus: Ein weites Feld schreitet die Historikerin Helga Schultz ab, und manchem mag es scheinen, sie äußere sich über längst vergessene Zeiten. Der gegenwärtig herrschende Konservativismus, schreibt sie selbst, möchte „die sozialistische Tradition insgesamt auf die Müllhalde kippen“.
Verfrüht, meint die Autorin. Und führt Persönlichkeiten ins Feld, die von 1880 bis 1980 – so der ungefähre zeitliche Rahmen – Geschichte geprägt haben. Die Geschichte der Literatur und der englischen Fabier wie George Bernard Shaw, den Vielvölkerstaat Jugoslawien wie Josip Broz Tito, das schwedische Volksheim wie das Ehepaar Myrdal oder die 1968er-Studentenbewegung wie Herbert Marcuse. Überaus anschaulich und lebendig porträtiert Schultz ferner Jean Jaurès, einen französischen Sozialisten, den Marx- und Bernstein-Freund Karl Kautsky, den polnischen Diktator Józef Klemens Piłsudski, der seine Kariere in einer sozialistischen Organisation begann, den bulgarischen Bauernführer Alexander Stanbolijski, Stalins Widersacher Leo Trotzki und drei weitere Protagonisten. Was den Parteiführern und Ideologen des hingeschiedenen realsozialistischen Lagers ein Gräuel war, nimmt Schultz als Verheißung: „Im Rückblick scheint es naheliegender, die Stärke des Sozialismus nicht in der Einheit und Reinheit seiner Lehre, sondern in der Vielfalt seiner Ausprägungen zu suchen.“ Und listig fragt sie: „Ist Variantenvielfalt nicht allgemeines Prinzip der Evolution?“ (Zitate bis hierhin S. 3). Die Alleinherrschaft der Bolschewiki, von Lenin auf den Weg gebracht, kommt ihr als die „Ursünde der Revolution und Geburtsfehler der sozialistischen Ordnung“ vor (S. 265).
Mit viel Empathie und kenntnisreich beschreibt sie das Leben von Waldimir Medem, der auf seinem Grabstein in New York zu Recht eine „Legende der jüdischen Arbeiterbewegung“ genannt wird und der fast so vergessen ist wie der „Allgemeine jüdische Arbeiterbund von Litauen, Polen und Russland“ (kurz Bund), dem er angehörte (S. 203). Ist die Utopie doch links und sozialistisch? Trotzig erklärt Schultz, Atlas, die berühmte Figur aus der griechischen Mythologie, könne „die Welt nicht nur auf der rechten Schulter tragen“ (S. 484).
MATTHIAS DOHMEN
Helga Schultz, Europäischer Sozialismus – immer anders. Karl Kautsky – George Bernard Shaw – Jean Jaurès – Józef Piłsudski – Alexander Stambolijski – Wladimir Medem – Leo Trotzki – Otto Bauer – Andreu Nin – Josip Broz Tito – Herbert Marcuse – Alva und Gunnar Myrdal, Berlin: BWV 2014, 554 S., EURO 59,00, www.bwv-verlag.de, www.helgaschultz.de.
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