07.12.2018TraKu
Kursbuch für Zukunftskünstler
Die Menschheitsgeschichte ist ein fortlaufender Prozess der Veränderung, der freilich nicht immer voran, also fort-schrittlich verläuft, sondern zuweilen auch Phasen zivilisatorischen Rückschritts einlegt. Zu bestimmten Zeiten kommt es aber nicht nur zu partiellen, sondern zu grundlegenden Einschnitten, die jeden Winkel der Gesellschaft erfassen. Die Historiker bezeichnen diese Ereignisse als „Große Transformation“, von denen es bisher zwei gegeben hat: die Sesshaftwerdung des Menschen in der Jungsteinzeit mit der Erfindung von Ackerbau und Viehzucht sowie die Industrielle Revolution ab dem 17. Jahrhundert mit ihen Durchbrüchen in Technik und Wissenschaft. Diese Entwicklung der Moderne hat inzwischen aber eine solche Dynamik erreicht, hat den Planeten in seinen Naturräumen in einer beispiellosen Weise erobert, ausgebeutet und umgestaltet, dass viele Experten von einer dritten Großen Transformation sprechen – einer Umwandlung aller Bereiche, die zur Verhinderung unabsehbarer Klimaveränderungen und dem Artenschwund in Flora und Faune eine Wende zur Nachhaltigkeit erreichen muss. Die nächste Große Transformation wird die Menschen und ihre Lebensweise mit den ökologischen Grenzen des Planeten in Einklang bringen. Wenn nicht, wird es für einen von beiden böse enden.
Uwe Schneidewind, der Präsident des Wuppertal Instituts für Klima Umwelt Energie, hat jetzt mit dem geballten Sachverstand seiner Forschungs-Crew am Döppersberg ein Buch geschrieben, das man ohne Übertreibung als Kursbuch in die neue vor uns liegende Zeit der Veränderung bezeichnen darf: „Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst des gesellschaftlichen Wandels“. Mit 520 Seiten hat das Opus zwar Schmöcker-Format, ist aber dennoch ein Wissenschaftsbuch, das dankenswerterweise in verständlicher Sprache den gesamten Horizont der Transformation abschreitet. Das Buch gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil werden die Problemlagen und die Lösungsansätze der Nachhaltigkeit dargestellt, die Schneidewind nicht nur als Öko-Thema, sondern auch als ein kulturelles Projekt versteht. Der zweite Teil behandelt sieben zentrale Bereiche, in denen derzeit die Wende stattfindet oder immer drängender ansteht, darunter die Energiewende, die Verkehrswende oder die Agrar- und Ernährungswende. Im dritten Teil werden die wichtigsten Akteursgruppen behandelt, die die Transformation voranbringen können, neben Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ist das auch die Zivilgesellschaft und deren Vorhut im Vordenken und Vorhandeln, die „Pioniere des Wandels“.
Öko-Bücher, die uns zur Umkehr rufen, gibt es die Fülle. Was Schneidewinds Buch neben der thematischen Bandbreite auszeichnet ist ein neuer kultureller Ansatz, den er in die Nachhaltigkeitsbewegung hineinträgt. Um das vorhandene Wissen über Notwendigkeit und Wege der Transformation in eine gesellschaftliche Breitenwirkung zu bringen, braucht es eine – wie es die Transformationswissenschaftler nennen – „transformation literacy“, eine Art transformativer Bildungskanon. Schneidewind, der Ökonom im Umweltinstitut, hat sich nun als Spracherfinder betätigt und den sperrigen Fachterminus in das neue deutsche Wort „Zukunftskunst“ übersetzt. Das ist eine semantische Innovation, hinter der mehr steckt. Zukunftskunst wird verstanden als „neuer Blick auf die Zivilisationswende“, wie es im Buch heißt.
Die erste Präsentation des Werks in Wuppertal fand daher – programmatische Aussage – nicht in der Uni oder der IHK statt, sondern in der Wuppertaler Oper, einem Leuchtturm der Kultur. Das transformative Potenzial der Kreativszene ist unverzichtbar für die Große Transformation, so der Tenor der Diskussion im Musentempel. Und der Wandel wird noch konkreter. Die Leiter der beiden Einrichtungen, Wuppertaler Oper und Wuppertal Institut, vereinbarten dort für das Jahr 2019 einen einmonatigen Ämtertausch. Der Wissenschaftler wird zum Opern-Intendant, der Musiker zum Transformationsforscher. Auf den Ausgang dieser kleinen Transformation an der Wupper darf man sehr gespannt sein.
Manfred Ronzheimer
Dieser Text erscheint auch im Kunstmagazin „Die beste Zeit“
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