Lehrer, Fußballspieler, kalte Krieger
Es waren noch Trümmer auf den Straßen und „in den Köpfen der Älteren“ (S. 30), als Aufenanger in den 1950er- und 1960er-Jahren Kindheit und Jugend verbrachte. Zuerst in Wuppertal, dann in Dortmund. Es herrschte der kalte Krieg, und wenige widersetzten sich dem regierungsamtlichen Antikommunismus, der in einem gewissen Sinne so gar kein Umdenken erforderte.
Auch an den Schulen. Im Fach Geschichte wurden die zwölf Jahre des tausendjährigen Reiches ausgespart. Einem Joseph Wulff, der verzweifelt versuchte, mit Büchern „seinem Überleben einen Sinn zu geben“, und der sich aus einem Fenster in den Tod stürzte (S. 146 und S. 138), seinem Musiklehrer Dr. Maxton, der Aufenanger geprägt hat (S. 27), und dem damaligen Intendanten am Dortmunder Theater, Paul Walter Jacob, der mutig den Brecht-Boykott durchbrach (S. 137), hat der Autor kleine Denkmäler gesetzt.
Eine Ode an die Jugend. „Liegt nicht in der Adoleszenz der Schlüssel zur gesamten Existenz? Ist nicht gemessen an der Jugend alle Zeit danach banal und kaum bemerkenswert, da sich das weite Feld der Möglichkeiten, das sich in der Jugend eröffnet hat, peu à peu verschließt? Man tut und ist Dieses und Jenes, die anderen Jenes oder Dieses“ (S. 174). Das klingt ein wenig resignativ und stimmt auch nur teilweise.
Melancholie kommt auch auf, wenn er mindestens so ausführlich wie die politischen Verhältnisse sein „Treiben der Triebe“ (S. 159) exzessiv schildert, beginnend mit der „dicken Ike“ über Hannah K., die „Belgierin“ und „die Verheiratete“. Oder geschieht dies sozusagen zwangsläufig, wenn sich ein 1946 Geborener seiner Sturm-und-Drang-Zeit erinnert? Jedenfalls kommt so etwas öfters vor.
Die Zeit, in der die Bundesrepublik Gestalt annahm und in der sie erste Verunsicherungen zu gewärtigen hatte, wird wieder lebendig. Hans Carossa tritt auf, Rudolf Alexander Schröder und Agnes Miegel, aber auch Alfred Andersch, Heinrich Böll, Paul Celan (S. 145), Max Frisch, Günter Grass und Paul Schallück sowie die „Gruppe 61“ mit Josef Büscher, Max von der Grün und Josef Reding. Aber auch Fußballspieler des BVB, versteht sich, und Politiker wie – hier irrt sich Aufenanger mit dem Vornamen – Manfred Kapluck, einer der begabtesten bundesdeutschen kommunistischen Nachkriegsfunktionäre, werden kurz charakterisiert.
Der Wahlberliner Aufenanger – in die alte Reichshauptstadt zog es ihn, nachdem er in Paris und in Rom ausgedehnte Zwischenstopps eingelegt hatte – trifft den Ton der damaligen Zeit besser als viele Historiker, die angeblich wissenschaftlich zu Werke gehen. Ob sein „Wahrlügen“, wie Louis Aragon das autobiographische Schreiben genannt hat (S. 154), die wirkliche Person zu Tage befördert? Von Max Frisch stammt das kluge Wort: „Jeder Mensch erfindet sich früher oder später eine Geschichte, die er für sein Leben hält.“ Der Autor des besprochenen Werkes fragt sich selbst, ob er es ist, „über den ich schreibe, oder bin ich ein anderer als der, als den ich mich darstelle? Bin ich eine Erfindung?“ (S. 9). Dem Wuppertaler Verleger Alfred Miersch verdanken wir mal wieder ein lesenswertes Buch.
MATTHIAS DOHMEN
Jörg Aufenanger, Bin ich nun ein Wirtschaftswunderkind … Augenblicke aus der Wunderzeit, Wuppertal: Nordpark 2014, ISBN 978-3-943940-02-2, 175 S., Euro 10,50, www.nordpark-verlag.de.
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