Mein Buch des Jahres: Regina Scheers „Machandel“
Von einem „großen Familien- und Generationenroman“ spricht der Verlag und hat doch den Mund nicht zu voll genommen: Regina Scheer spanne in ihrem beeindruckenden Debütroman den Bogen von den 1930er-Jahren über den Zweiten Weltkrieg bis zum Fall der Mauer und in die Gegenwart. Sie erzähle „von den Anfängen der DDR, als die von Faschismus und Stalinismus geschwächten linken Kräfte hier das bessere Deutschland schaffen wollten, von Erstarrung und Enttäuschung, von dem hoffnungsvollen Aufbruch Ende der 80er Jahre und von zerplatzten Lebensträumen“.
Die Geschichte wird in 25 Kapiteln jeweils aus der Sichtweise von Clara, der Hauptperson und Tochter des NS-Widerstandskämpfers und KZ-Häftlings sowie nachmaligen stellvertretenden Ministers und Volkskammerabgeordneten Hans Langner, sowie aus dessen und dem Blickwinkel von Emma, der Zugezogenen, von Herbert, dem Dissidenten, und Natalja, der Zwangsarbeiterin, erzählt: „Vielleicht war ich für sie so etwas wir ein Haustier, das man anschreien konnte und treten, dem sie aber auch etwas zum Fressen hinwarfen, weil es nun einmal da war und zum Gut gehörte“ (Seite 93).
Es handelt sich um einen Roman, auch wenn viele Protagonisten demjenigen, der in der DDR gelebt hat oder sich mit dem sozialistischen deutschen Staat beschäftigte, bekannt vorkommen und als Handelnde auftauchen von Otto Grotewohl, dem aus der SPD kommenden ersten Ministerpräsidenten (der „Lusche“, S. 54), bis zu Johanna Töpfer, der „blassen, nichtssagenden“ stellvertretenden FDGB-Vorsitzenden (S. 55). Und dem melancholischen Ernst Busch („Die Zeit dreht sich wieder rückwärts“, S. 236). Es ist eine höhere Wahrheit als in den Geschichtsbüchern, wie man es bei Egon Friedell nachlesen kann. Bei Scheer heißt es, dem Buch vorangestellt, mehrdeutig: „Alles ist wahr, aber so war es nicht.“
Durchgehendes Motiv ist das von den Gebrüdern Grimm aufgeschriebene, aber auch später etwa bei Hermann Löns auftauchende Märchen vom Machandelbaum: „… und dann fand ich, meine Kollegen machten nichts anderes, als Marleenken, das Schwesterchen des toten Bruders, es getan hat, indem sie all de Beenkes un Knakens, all die Beinchen und Knochen, ihres Bruders aufsammelte und in ein seidenes Tuch band, aus dem er sich als schöner Vogel erheben konnte, de süng so herrlich un flöög hoog in de Luft“ (S. 433 f.). Machandel gleich Wacholder.
Überhaupt Marlene, die einer Euthanasieaktion zum Opfer fällt, denunziert von einem guten Deutschen, der alle Regime des 20. Jahrhunderts wohlgenährt übersteht, und die ihm nicht zu Willen war und der Natalja Heinrich Heine nahebrachte. Das muss man gelesen haben und entzieht sich der schlichten Inhaltswiedergabe. Natalja: „1939 war ich vierzehn und mein Vater und meine Mutter wurden geholt, morgens um drei, sie seien Sowjetfeinde, hieß es. Aber ich weiß, dass sie keine Feinde waren und dass sie an den Kommunismus glaubten“ (S. 22).
Dieses unglaublich schöne, bittere, die DDR in ihren hauptsächlichen Phasen nachbildende, nicht zuletzt aus der Perspektive des zeitweise selbst ins Visier der Staatsschutzbehörden geratenen und letztlich bitter enttäuschten Hans erzählte Geschichte ist der Erstlingsroman der Journalistin und Verfasserin von Büchern zur deutsch-jüdischen Geschichte (auch darüber steht viel in dem Roman) Regina Scheer. In den 1970er-Jahren arbeitete sie für die Zeitschrift „Forum“, in der, eine persönliche Bemerkung, der große Walter Markov 1947 seiner Partei einen leider missachteten Ratschlag auf den Weg gab („historia docet“). Aber manche Vorgänge haben späte Wirkung.
MATTHIAS DOHMEN
Regina Scheer, Machandel. Roman, München: Knaus 2014, ISBN 978-3-8135-0640-2, 479 S., Euro 22,99, www.randomhouse.de/Verlag/Knaus/11000.rhd.
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