Utopie Heimat?

Die dritte Wuppertaler Literatur Biennale macht den Begriff "Heimat" in diesem utopischen Sinne zum Thema ihrer Veranstaltungsreihe. An zwölf Tagen werden AutorInnen unterschiedlicher Herkunft und Sprache Publikum ihre Werke vorstellen. Gerold Theobalt zu "Utopie Heimat".

Keyvisual_Biennale_2016_4c„Heimat“ ist wohl für jeden Menschen ein allzu selbstverständlicher Begriff, der keiner weiteren Erklärung bedarf. Für die meisten von uns bezeichnet er den Ort, an dem man geboren und herangewachsen ist, wo man wie die Eltern und Großeltern leben und mit seiner Familie, seinen Freunden und Kollegen alt werden möchte. Manche sind irgendwann an den Ort ihrer Wünsche gezogen, auf die sonnenreiche Urlaubsinsel oder in die quirlige Metropole. Und andere hat das Schicksal – sei es durch Krieg oder wirtschaftliche Not – aus ihrer angestammten Heimat vertrieben, in eine Fremde, in der eine andere Sprache gesprochen wird und in der die Sitten und Gebräuche der Menschen so ganz anders sind als zu Hause – in der Heimat.

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Aber da sind auch nicht wenige, denen die Heimat schon früh zur Fremde geworden ist, die darunter leiden, von ihren Landsleuten als Außenseiter oder Nestbeschmutzer geschmäht zu werden. Weil sie nicht bereit sind, diese ihre sogenannte Heimat als idealisierten Ort kritiklos hinzunehmen und immer wieder den Finger in die Wunde offenbarer oder verdeckter Misstände legen.

Nicht wenige dieser couragierten und doch so häufig missverstandenen Menschen sind Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Unerwiderte Heimatliebe drückt sich bei ihnen in einem besonderen Verhältnis zur Sprache aus, in der sie schreiben. Schreibend üben sie Kritik an den Zuständen, die sie kennen, weil sie in ihnen leben. Schreibend entwerfen sie aber auch eine Art zweite, utopische Heimat. Indem sie die Dinge zur Sprache bringen, geben sie ihnen einen Wert, der über das Offensichtliche des Alltags hinausgeht. Und im besten Fall taucht dann in ihren Texten diese andere, durch Sprache erschaffene neue Welt klar und deutlich vor den Augen des Lesers auf, lüftet ihre Geheimnisse und beginnt zu leuchten.

Heimat ist also immer konkreter Ort und Nicht-Ort zugleich – lebendige Erinnerung an einen Erfahrungsraum, in dem man einmal gelebt hat, und ersehnte Utopie einer als paradiesisch vorgestellten Welt, die man aus der eigenen Kindheit zu kennen glaubt.

„Das eigentliche Heimatgefühl ist das Heimweh.“ sagt Bernhard Schlink. Das Wort „Heimat“ führt also etwas Melancholisches mit sich. Denn „die Heimat“ scheint erst Sinn zu machen durch den Gegenbegriff: „das Exil“.

Das Wort selbst gilt anderen Sprachen als unübersetzbares deutsches Unikat. Ist „Heimat“ also eine deutsche Mystifikation – ein patriotischer Traum aus der Zeit der Romantik, in der das Wünschen noch helfen sollte, weil die politische Wirklichkeit der Restauration so düster war?

Nachgeborenen Generationen scheint der Begriff „Heimat“ deshalb eher suspekt, obgleich die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Identifikation mit dem Land, in dem man „zu Hause“ ist, auch bei ihnen nie ganz erloschen ist. Eine vielfach gebrochene Utopie von Heimat hat der allzu früh verstorbene deutsche Schriftsteller Jörg Fauser zur Sprache gebracht:

„Es wird überliefert, dass Napoleon gesagt habe: ‚Acht Monate Regen, zwei Monate Schnee und das nennt die Bande Vaterland.‘ Noch peinlichere Dinge als Schnee und Regen haben wir zu dulden und vielleicht, hoffentlich, auch zu überwinden: die sprachliche Unbegabtheit, die Langsamkeit des Denkens, die Liebe zum Klischee und den großen, großen Abstand zwischen dem, was wir fühlen, und dem, was wir sagen. Könnten wir diesen Abstand verringern, könnten wir uns so miteinander verständigen, dass der Geist nicht darunter leiden müsste, wenn wir uns unserer Gefühle sicherer würden, dann könnte am Ende aus diesem Land unser Land werden, Ihr Land, mein Land – und das Land unsres kranken Nachbarn auch.“

Die dritte Wuppertaler Literatur Biennale macht den Begriff „Heimat“ in diesem utopischen Sinne zum Thema ihrer Veranstaltungsreihe. An zwölf Tagen werden Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Herkunft und Sprache einem interessierten Publikum ihre Werke vorstellen – qualitätsvolle Texte, die immer auch ein höchst subjektives Verständnis von Heimat zum Ausdruck bringen. Sie alle bestehen auf dem universalen Recht jedes Einzelnen, sich in dieser Welt „beheimatet“ zu fühlen, wo immer er auch sei.

Gerold Theobalt
Dramaturg und Theaterautor, lebt in Wuppertal.

Nachweis:
Bernhard Schlink: „Heimat als Utopie“, Edition Suhrkamp, Berlin, 2000

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