Walter Moers erklärt die Gegenwart

Bittere Wahrheiten: „Das Einhörnchen, das rückwärts leben wollte“ des zamonischen Altmeisters bringt die Dinge auf den Punkt: Maximale Leseempfehlung

Ein neuer Walter Moers. Eine maximale Leseempfehlung. Ein Einhörnchen, das lieber rückwärts leben möchte, ein Werwolf, der ein Wiewolf sein will, eine fleischfressende Pflanze, die gern Vegetarierin wäre, die Blattschneideameise 12345, die auf den Spitznamen 45 hört, und zwei Vampirgeierbrüder, die Aas verachten – etliche Bewohner des Kontinents Zamonien haben Probleme, sich in der Welt zurechtzufinden, die sich ja in der Tat ständig verändert, und das nicht immer zu ihrem Besten.

Der gelernte Moers-Leser hat tatsächlich Eingewöhnungsschwierigkeiten, und die ersten kleinen Geschichten kommen etwas holperig daher. Doch nach wenigen Kapiteln ist man wieder im Fluss des zamonischen Kosmos. Dabei helfen der bekannte Erfinder Dr. Abdul Nachtigaller, der Arzt Quacksalb, der Ubufant mit Namen Rüssel oder die Haifischmade Phistomefel Smeik.

Der publikumscheue Autor hat eine Parabel auf Arbeitslosigkeit und soziale Kälte geschrieben, und zwar in Form von zwanzig „Flabeln“ genannten „Lachfabeln“. Da geht es um Verschwörungstheorien und Selbstfindungsprozesse, „Musiktiere“ und eine Gnomumwandlung, Hermeline, die noch nie jemand gesehen hat, oder eine fleischfressende Pflanze, die sich vegetarisch ernähren wollte.

Zeitweise geht es, Seite 62, lateinisch zu (was leider weder ins Zamonische noch ins Deutsche übersetzt wird). Mitunter ist auch vom Kategorischen Imperativ des Manu Kantimel die Rede, der die Menschen bekanntlich zu Ewigen Frieden führen wollte und nicht in die Bombardements der Ukraine oder des Gazastreifens.

Aber auch Moers wird älter. So ist das nun mal: „Der einzige Trost, den man dazu spenden kann, ist, dass es jedem so geht. Aber das ist eigentlich kein Trost, sondern nur eine Relativierung. Füge dich in dein Schicksal! Lass einfach los! Es hat hauptsächlich mit Zellverschleiß zu tun“ (S. 52).

Das Nachwort steht unter der Überschrift „Humor ist ein ernstes Geschäft“. Den Verirrungen der nationalen und der internationalen Politik ist, da folgt man dem Erfinder von Käpt’n Blaubär und Rumo, des Schrecksenmeisters oder der Prinzessin Insomnia gern, nur mit Eydeetenhumor beizukommen.

Also mit Walter Moers, von dem der Rezensent hofft, dass er bereits am nächsten Roman, Comic oder Band mit Erzählungen arbeitet, also schreibt und zeichnet.

Überhaupt die Zeichnungen, die auch dieses Mal wieder vom Meister selber stammen. Schon der Darstellung der Vampirgeierbrüder aus den Finsterbergen wegen (S. 118) ist der Erwerb des neuen Moers für seine langjährigen und hoffentlich auch neuen Fans zwingend. Wo sonst in der modernen Roman- und Sachbuchliteratur liest man etwas von Chilli Chamilli, dem Impresario, Werbe- und Songtexter, Steuererklärungsfriseur, freischaffenden Rechtsanwalt und Homöopathen sowie Spezialisten für Kleingedrucktes. Der neue Hildegunst von Mythenmetz ist Moers sei Dank der alte und bleibe uns noch lange erhalten.                                                     MATTHIAS DOHMEN

 

Walter Moers, Das Einhörnchen, das rückwärts Leben wollte. Zwanzig zamonische Flabeln, München: Penguin/Randomhouse 2024, ISBN 978-3-328-60342-9, 163 S., 28,00 Euro. www.penguin-verlag.de.

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