11.04.2018Claudia Otte
Das Lied der Emigrantin
Sie waren fast alle da. Lenin in Zürich und sein Landsmann, der Anarchist Michail Bakunin im Tessin. Der hielt sich in den Jahren 1873/74 in der Nachbarschaft vom Monte Verità auf, der zur Legende werden sollte.
Zum „Monte Verità“ , einem Hotspot der europäischen Kulturgeschichte, kamen Anarchisten und Pazifisten wie Graf Kropotkin oder der „Lampenputzer“ und Pazifist Erich Mühsam. Vor und während des Ersten Weltkriegs sammelten sich dort die Verweigerer, Emigranten, Flüchtlinge und Dadaisten aus den kriegführenden Staaten: so Hans Arp, der Dadaist Hugo Ball, Hermann Hesse, Arthur Segal und rebellische Geister wie Ernst Toller oder Gustav Landauer, Theoretiker und Aktivist des Anarchismus.
Warum einige dieser Geister Texte geschrieben haben, die bis heute überdauern, wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Vielleicht hatte ihre Muse einen Schweizer Pass… Ausgerechnet die Schweiz. Erst 1971 führte sie das Stimm- und Wahlrecht für Frauen ein. Doch schon lange vorher war sie Heimstatt von Revolutionären und Anarchisten, denen die Gleichberechtigung der Frauen eines von vielen Anliegen war. Das galt ebenfalls für Else Lasker-Schüler. Sie war zwar in Berlin das Herz der Bohème, aber doch auch auf ihre Art eine Revolutionärin. Die Künstlerin hatte sich die Haare kurz geschnitten, was zu dieser Zeit im deutschen Kaiserreich ebenso ungewöhnlich war wie ihre Pluderhosen. Das Abtreibungsverbot durch den Paragrafen 218 bekämpfte sie ebenso wie die Diskriminierung der Homosexuellen mit dem Paragraphen 175. Dann sägte sie an dem Ast, auf dem die alleinerziehende Mutter saß: Die mit Kommunisten befreundete Dichterin griff die Macht der Verleger mit ihrem Pamphlet „Ich räume auf!“ an.
Im Schweizer Exil schrieb sie später das Gedicht „Die Verscheuchte“. Der ursprüngliche, später von ihr verworfene Titel lautete „Das Lied der Emigrantin“. Das Poem, das meinem Buch den Titel gab, gilt als eines der lyrischen Schlüsselwerke zum Thema Exil. Mit vermutlich ewiger Gültigkeit. Es wird ebenso überdauern wie „Wir sind die Letzten“ von Hans Sahl und Brechts „Über die Bezeichnung Emigranten“ :
DIE VERSCHEUCHTE
Es ist der Tag im Nebel völlig eingehüllt,
Entseelt begegnen alle Welten sich –
Kaum hingezeichnet wie auf einem Schattenbild.
Wie lange war kein Herz zu meinem mild…
Die Welt erkaltete, der Mensch verblich.
– Komm bete mit mir – denn Gott tröstet mich.
Wo weilt der Odem, der aus meinem Leben wich?
Ich streife heimatlos zusammen mit dem Wild
Durch bleiche Zeiten träumend – ja ich liebte dich …
Wo soll ich hin, wenn kalt der Nordsturm brüllt?
Die scheuen Tiere aus der Landschaft wagen sich
Und ich vor deine Tür, ein Bündel Wegerich.
Bald haben Tränen alle Himmel weggespült,
An deren Kelchen Dichter ihren Durst gestillt –
Auch du und ich.
Else Lasker-Schüler
Hajo Jahn (Hrg.): „Das Lied der Emigrantin“, S. 385, Peter Hammer Verlag Wuppertal
ISBN 978-3-7795-0591-4, € 20,00
Zu beziehen über die ELS-Gesellschaft ode am Mittwoch, 11.4. ab 19 Uhr im „Glücksbuchladen“ Wuppertal, Friedrichstr. 52
Hier geht‘ zum Fleyer Almanach Glücksbuchladen (1)
Mit besten Grüßen
Hajo Jahn
Vorsitzender der Else Lasker-Schüler-Gesellschaft
Initiatorin des „Zentrums für verfolgte Künste“
Herzogstr. 42
D-42103 Wuppertal
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