29.11.2019Claudia Otte
Jahr100Wissen: „Wie ein Tänzer auf der Titanic“
Auguste Renoir hat viel in der freien Natur unter natürlichen Lichtverhältnissen gemalt. Welche Auswirkungen haben diese Arbeiten auf die Entwicklung der Malerei des 20. Jahrhunderts?
Pfeiffer: Die wichtigste Entdeckung beim Malen an der frischen Luft ist die Feststellung, dass die Realität immer nur eine vermeintliche ist. Besonders schön zeigt sich so etwas in Form von Serien. Etwa von Renoirs Künstlerfreund Monet, der die Kathedrale von Rouen in immer neuen Farbvarianten abgebildet hat – je nachdem in welchem Licht sie ihm gerade erschienen ist.
Diese frappierende Erkenntnis wird bis heute künstlerisch verwertet. So arbeitet beispielsweise der Künstler Olafur Eliasson mit solchen Phänomenen der Wahrnehmung. Es gibt einen Film über sein Schaffen, in dem er einfach ein weißes Papier vor die Kamera hält – in Grönland, in New York, in Kalifornien, in Kapstadt und so weiter. Überall zeigt sich ein anderer Weißton. Und es ist bedeutsam, sich darüber klar zu sein, dass es diese Unterschiede gibt. Zum Beispiel, weil man dann akzeptieren kann, dass zwei Menschen die Welt unterschiedlich wahrnehmen können und trotzdem beide recht haben.
Renoir sagte einmal: „Ich liebe Bilder, die in mir den Wunsch erwecken, in ihnen herumzuspazieren, wenn es Landschaften sind, oder sie zu liebkosen, wenn es Frauen sind.“ Und über den Betrachter seiner Aktmalereien: „Traue niemand, den der Anblick einer schönen weiblichen Brust nicht außer Fassung bringt.“ Sind seine Frauenakte deshalb so hingebungsvoll?
Pfeiffer: Ich persönlich gerate zum Beispiel gar nicht aus der Fassung, wenn ich eine weibliche Brust erblicke. Als hingebungsvoll würde ich mich dennoch betrachten. Hingabe bedeutet rückhaltlosen Einsatz für eine Angelegenheit. Im Unterschied zur Leidenschaft geht es aber nicht um aktives Drängen, sondern um ein Zuwenden und Empfangen. Hingabe beschreibt also einen Vorgang, der mit höchster Achtsamkeit verbunden ist und alles, was mit Achtsamkeit geschieht, ist belebend, bereichernd und kraftvoll. Sich der bildenden Kunst auf diese Weise zu verschreiben, bedeutet sehenden Auges durch die Welt zu gehen. Um Interpretation geht es dabei erst in zweiter Linie. Und davon zeugen eben auch die Frauenakte von Renoir.
Renoir lebte den größten Teil seines Lebens in Armut. Ist das das Schicksal eines Künstlers, der neue Ideen entwickelt?
Pfeiffer: Nein, das ist das Schicksal von etwa 95 Prozent akademisch ausgebildeten Künstlerinnen und Künstlern. Ob sie neue oder alte Ideen haben ist jedenfalls nur einer der vielen möglichen Gründe, warum sich Ruhm und Reichtum in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle nicht zu Lebzeiten einstellen. Das hat bis heute meist schlicht damit zu tun, dass es für eine sehr große Anzahl von Künstlerinnen und Künstlern eine nur sehr geringe Anzahl von Galerien gibt. Alles andere würde sonst auch den Nimbus der hochpreisigen Kunstwerke verderben. Und so gibt es heute wie damals arme Künstlerinnen und Künstler mit guten Ideen und reiche Künstlerinnen und Künstler mit schlechten Ideen und umgekehrt. Das ist völlig unabhängig voneinander.
Als er an den Rollstuhl gefesselt ist, lässt er sich einen Pinsel an das Handgelenk schnüren, um so noch weiter malen zu können. Was treibt einen Künstler in dieser Phase immer noch an?
Pfeiffer: Eben die vorhin erwähnte Hingabe. Wenn einer wie Renoir gegen Ende seines Lebens trotz Arthritis weiter malen will, dann möchte er nicht aufhören, die Welt in achtsamer Aufmerksamkeit zu beobachten. Dann empfindet er seine Arbeit offenbar als belebend und bereichernd. In einem solchen Fall gibt es kein Renteneintrittsalter.
Was macht den eigenständigen Stil seiner Werke aus?
Pfeiffer: Wenn man sich die Arbeiten der Impressionisten anschaut, dann ist ihnen allen eine gewisse Leichtigkeit gemeinsam und bis heute strömen die Besucher in die Ausstellungen impressionistischer Kunst, um sich an der schieren Lebensfreude zu begeistern. Für keinen seiner Malerkollegen gilt dies so sehr wie für Renoir. Das mag uns heute merkwürdig erscheinen, wenn man das Zeitgeschehen bedenkt. Ein aufmerksamer Blick in die Welt, etwa auf den Deutsch-Französischen Krieg, hätte auch ganz andere Bilder reflektieren können. Aber solche Bilder aus den Schützengräben kommen mit voller Wucht erst später, nach dem ersten Weltkrieg.
Und so erscheint mir einer wie Renoir vielleicht eher wie ein Tänzer auf der Titanic: Mit ungebrochenem Optimismus unterwegs auf der Suche nach Schönheit. Das kann man verblendet finden oder einen Gewinn für die Menschheit.
Der Maler Emile Bernard, ein Zeitgenosse Renoirs, sagte: „Wir müssen zugeben, dass der Impressionismus nichts Wertvolles hervorgebracht hat. Degas ein Versager, Monet ein Landschaftskonditor, Renoir ein Porzellanmaler, der am Ende seines Lebens nur noch von Ungeheuern und vom Kommerz umgeben war.“ Was halten sie – 100 Jahre später – von seiner Einschätzung?
Pfeiffer: Bernard gehört also offenbar zu denjenigen, die von der eindimensionalen, leicht konsumierbaren Fröhlichkeit mancher impressionistischeren Sujets genervt waren. Wie schon angedeutet kann man da unterschiedlicher Einschätzung sein. Ich denke, dass lebensbejahende Freude ein Motor menschlicher Weiterentwicklung ist, solange sie nicht alles Negative gleichzeitig verdrängt und ausblendet. Man wäre als Künstlerin oder Künstler naiv, wenn man auf Kunstmessen wie der „Art Basel“ nicht bemerkt, dass auch heute noch eine Reihe Ungeheuer in Sachen Kommerz dort unterwegs ist.
Obwohl Renoir zu Lebzeiten nicht reich geworden ist, gab es bereits 1903 die ersten Renoirfälschungen. Hatte man da schon seine Qualität erkannt?
Pfeiffer: Offenbar hatte die High Society erkannt, dass er passabel porträtieren konnte, und er wurde zwar nicht reich damit, hatte aber so viele Porträtaufträge, dass sie ihm der Kolportage nach bisweilen lästig wurden. Insgesamt fällt seine zunehmende Beliebtheit in eine Zeit des erstarkenden Bürgertums, das auf der Suche nach Möglichkeiten zur Distinktion ganz besonders die Kunst in den Blick genommen hatte. Man hatte also erkannt, dass sich Renoir-Porträts als eine Art Statussymbol verwenden ließen und sei es in Form einer Fälschung.
Das Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum besitzt sechs späte Landschaften von Renoir. Er hinterlässt 6.000 Ölgemälde. Was bedeuten seine Werke heute für die Kunstwelt?
Pfeiffer: Ich bin keine Kunsthistorikerin und keine Sammlerin und beantworte die Fragen hier als Künstlerin. Und als Künstlerin war mein Blick auf den Impressionismus lange von Kalendern, Regenschirmen, Kaffeetassen, Seidentüchern und sonstigen blödsinnigen Devotionalien aus Museumsshops verstellt. Ich bin überzeugt davon, dass die meisten Leute glauben, Monets Seerosen wären ein DIN A 3 Gemälde, weil sie so immer auf Jahreskalendern prangen. Außerdem wurde ich im Kunstleistungskurs mit absurden kunsthistorischen Zugangsweisen zu Cezanne gequält – den konnte ich ein Jahrzehnt lang nicht mehr sehen.
Einen unverstellten Blick an dieser Interpretations- und Verwertungsmaschinerie vorbei zu bekommen, finde ich persönlich gar nicht so leicht. Manchmal ist es dann leichter, sich dieselben Fragen lieber mit einem Olafur Eliasson zu stellen als mit einem Renoir oder Cezanne. Aber dann liest man ein Zitat von diesen Künstlern oder sieht ein Bild von ihren Ateliers bzw. eine Abbildung, wie sie durch die Landschaft streifen, um einfach nur aufmerksam zu schauen. Und darüber kann ich in Kontakt treten. Dann weiß ich, warum sie so unermüdlich gemalt haben, und darin können sie auch allen kommenden Generationen noch Vorbild sein.
Uwe Blass
Katja Pfeiffer absolvierte ein Lehramtsstudium in Kunst und Erziehungswissenschaften an der Kunstakademie Düsseldorf in den Klassen Günther Uecker, Alfonso Hüppi und Jan Dibbets sowie ein Lehramtsstudium der Geschichte an der Heinrich-Heine-Universität. Sie war Meisterschülerin bei Alfonso Hüppi. Seit 2006 ist sie Professorin für Kunst mit dem Schwerpunkt Künstlerische Praxis an der Bergischen Universität Wuppertal.
Quelle: Bergische Universität Wuppertal
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