07.08.2015

Mord möglich

Im Nordpark legen ein Sturm und ein umgestürzter Baum einen Schädel frei. Handelt es sich um einen mehr als 100 Jahre alten Mordfall?

Schädel Fotos von Jörg Scheidt (2)Man hört nur das stete Rascheln beim Umblättern. Ein großes Buch liegt auf dem Tisch. Die Schrift: Sütterlin. Archäologe Jörg Scheidt und Historiker Heiko Schnickmann sitzen im Kirchenarchiv in Ronsdorf und durchsuchen die Sterberegister der Jahre 1880 bis 1913. Hintergrund: ein Schädelfund im Wuppertaler Nordpark.

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Bereits im Jahre 2007 fand Tanya Löber-Kämper den Schädel in einer Grube unter einem umgestürzten Baum. Der damalige Sturm Kyrill hatte ihn freigelegt. Doch bis zu der Erkenntnis, dass es sich bei dem Fund überhaupt um einen Menschenschädel handelt, vergingen zunächst einige Jahre.

Als erstes ging der Schädel an das damals noch existierende Fuhlrott-Museum. Dort war man der Ansicht, dass es sich um den Schädel eines Mopses oder eines Boxers handeln könnte. Und so verblieb das Stück erst einmal bei den Löber-Kämpers. Doch die Familie war skeptisch ob dieser Erkenntnis. Bei Museumsbesuchen erinnerten ausgestellte Menschenschädel sie doch immer wieder stark an ihren vermeintlichen Mopsschädel zu Hause. Und so fragten sie den Archäologen Jörg Scheidt um Rat.

Scheidt konstatierte sofort: Dies sei ein Menschenschädel. Der Archäologe brachte den Schädel anschließend zur Polizei, um einen Mordfall auszuschließen. Diese wiederum schickte ihn in die Gerichtsmedizin nach Düsseldorf. Doch dort meinte man zu erkennen, dass es sich um einen Affenschädel handle. Und so sandte man das Fundstück anschließend zum Wuppertaler Zoo und von da aus in das zoologische Forschungsmuseum „Alexander Koenig“ in Bonn, wo man die Affenart eruieren wollte.

Ein Jahr verging, doch das Ergebnis blieb aus. Anschließend gelangte das Fragment nach Leipzig, in das Max-Planck-Institut. Hier schließlich wurde bestätigt, was Scheidt schon erkannt hatte: Es handle sich um den Schädel eines modernen Menschen. Nach dieser langen Rundreise befindet sich er sich aktuell wieder im Wuppertaler Zoo. Scheidt begann indes, da nun die menschliche Herkunft des Schädels geklärt war, den Fall weiter zu untersuchen.

Was könnte geschehen sein? Und wie alt ist der Schädel? Bei einer palaeo-anthropologischen Untersuchung konnte anhand der zugewachsenen Schädelnaht (sutura coronalis) festgestellt werden, dass die verstorbene Person in die anthropologische Altersstufe senil einzuordnen ist. Auch die sich in der Gehirnhöhle befindlichen Osteome – das sind gutartige Knochentumore – waren ein weiteres Indiz. Somit muss die Person mindestens 60 Jahre alt gewesen sein. Ein Bomberpilot aus dem 2. Weltkrieg ist also auszuschließen. Außerdem weist der Schädel weibliche Merkmale auf. Darüber hinaus ist die Fundstelle archäologisch nicht relevant. Weder ehemalige Friedhöfe noch frühere Bebauungen gab es vor Ort. An der Fundstelle befinden sich lediglich ein Weg sowie daneben eine offenbar bewusst angepflanzte Baumreihe.

Ein weiteres Rätsel ist die Fundtiefe: Bei 1,50 Meter ist ein schnelles und unauffälliges Vergraben einer Leiche bei Nacht und Nebel schwer denkbar. Und so sitzt Archäologe Scheidt mit seinem Kollegen im Archiv und wälzt die Register. Enttäuscht legt er den nächsten Band beiseite. Zweifel kommen auf. Wurde der Schädel nach dem Sturm möglicherweise nachträglich durch Tiere in die Grube verschleppt? Nein, entgegnet Kollege Schnickmann, dessen historische Schwerpunkte Tier- und Umweltgeschichte sind. Eine Tierverschleppung komme nicht infrage, da es vor Ort keine Tiere – wie zum Beispiel Hasen – gebe, die dafür infrage kämen.

Tage vergehen. Doch dann der entscheidende Moment: Schnickmann kommt mit einem Buch ins Archiv, darin eine Karte mit dem Namen „Der Nordpark vor dem ersten Weltkrieg“. Eingezeichnet ist unter anderem eine Baustelle für die Schaffung genau jenes Weges, an dem Tanya Löber-Kämper den Schädel gefunden hatte, datiert auf das Jahr 1903. Der Weg existiert also erst seit 1903. Ebenso die Bäume, wie die Karte bestätigt. Für die Schaffung der Baumreihe muss damals ein Graben angelegt worden sein. Hat jemand möglicherweise bei Nacht eine Leiche in den Graben gelegt und notdürftig bedeckt, bevor am nächsten Tag die Bäume gepflanzt und der Graben zugeschüttet wurde?

Die Blickrichtung des Schädels war nach Nordosten, zum Weg hin, ausgerichtet. Würde man eine Leiche mit dem Rücken nach unten in einen Graben legen, der parallel zum Weg verläuft, ergäbe dies ein stimmiges Bild.

Wenn eine Person vermisst wird, wird sie nach zehn Jahren für tot erklärt. Scheidt greift zum Sterberegister von 1913. Schon nach wenigen Seiten sticht ein Eintrag ins Auge: Frau Alexander Hueck (Ascheurne). Sterbedatum: 20.07.1913. Todesursache: Keine Angabe. Sterbeort: Blankenburg (im Harz). Besonders interessant ist das Sterbealter. Ein „?“ ziert das Feld. Auch die Sterbeuhrzeit sowie der Mädchenname und das Sterbealter fehlen.

Wenn man vom Sterbejahr 1903 statt 1913 ausgeht, war sie immer noch 69. Das würde zur anthropologischen Altersstufe passen. Ein Blick zurück ins Sterberegister zeigt weitere Auffälligkeiten: Denn auch die ansonsten auf der rechten Seite des Registers stets angegebenen Informationen wie die Kosten des Leichentransports fehlen. Aber ist es der richtige Eintrag? Vielleicht fehlen die Informationen, weil es sich um eine Armenbestattung handelte? Aber auch dies kommt nicht infrage, denn hierfür gibt es ein extra Feld im Register. Außerdem ergeben weitere Recherchen, dass es sich bei Familie Hueck um eine wohlhabende Familie gehandelt haben muss. Der Vater war Oberbergsamtredundant in Dortmund, zuvor war er Hauptmann in der preußischen Armee.

Was mag passiert sein? Eine Theorie: Eine warme Sommernacht im Jahre 1903. Eine Leiche soll fortgeschafft werden. Vielleicht gab es ein Familiendrama? Oder einen Erbschaftsstreit? Der Täter weiß jedenfalls: Morgen werden im Nordpark die Bäume an den Wegesrand gesetzt. Man bedeckt den Leichnam mit ausreichend Erde, am nächsten Tag kommen eine 1,50 Meter dicke Erdschicht und ein Baum dazu. Den Nachbarn erzählt man: Die Frau sei verreist. Nach Blankenburg, im Harz. Dort ist sie dann angeblich verstorben und in Wuppertal findet eine (vermeintliche?) Urnenbestattung statt. All dies ist nur eine Theorie. Ob das Rätsel um den Schädelfund im Nordpark endgültig aufgeklärt wird, steht weiter in den Sternen.

Text: Carsten Dahlmann

Der Artikel ist ein gekürzter Auszug aus der neuen Ausgabe der talwaerts, Wuppertals Wochenzeitung. Den vollständigen Artikel lesen Sie in der neuen Ausgabe, die immer freitags erscheint. Überall, wo es Zeitschriften gibt und unter www.talwaerts-zeitung.de

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Kommentare

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  3. wordle today sagt:

    Der Schädel war nach Nordosten ausgerichtet. Ein logisches Bild würde entstehen, wenn eine Leiche mit dem Rücken nach unten in einen Graben parallel zum Weg gelegt würde.

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