Albert Norden zum Geburtstag – 4. Dezember 1904
„So fing es an: Ich stand an einem Frühsommertag 1918 in einer Schlange auf dem Elberfelder Markt. Auf was wir da warteten, weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich handelte es sich um die Universalspeise jener späten Kriegszeit, die Kohlrübe, die als Suppe, Gemüse, Fleischersatz, Kompott, Pudding, Brotaufstrich und Kaffeesurrogat Verwendung fand. Plötzlich hörte man Singen und Rufen, ohne zu verstehen, worum es ging. Dicht vor dem knapp 100 Meter entfernten Rathaus ballte sich eine Menge zusammen, aus der die Pickelhauben von Polizisten aufblitzten; dann spritzen die Leute, meist junge Menschen, nach allen Seiten auseinander, und einer stellte sich als unschuldiger Käufer hinter mich in die Reihe.
Von ihm erfuhr ich, nachdem ich ihn angesprochen hatte, daß da junge Arbeiter und Arbeiterinnen gegen den Krieg demonstriert hatten. Er war es auch, den ich nun öfters traf und der mir einige Tage später ein gedrucktes Heftchen gab. Es war eine Agitationsbroschüre der alten Sozialdemokratie.“
Albert Norden ist – mit Wolfgang Abendroth und Jürgen Kuczinsky – einer der grossen Wuppertaler Enkel von Friedrich Engels.
Am 4. Dezember 1904 in Myslowitz geboren, wuchs er im Wuppertal auf. Sein Vater Joseph Norden war ab 1907 der Rabbiner der jüdischen Gemeinde von Elberfeld und ein Vertreter des liberalen Reformjudentums. Joseph Norden wurde im Februar 1943 in Theresienstadt ermordet.
Albert Norden fand mit sechzehn Jahren zur grossen und starken Arbeiter:innenbewegung des Wuppertals.
„Im Realgymnasium wurde meine politische Lage schwierig. Anfang 1919 war ich mit zwei anderen Schülern zum Direktor gegangen und hatte die Einrichtung von Schülerräten gefordert. Ehrlich gesagt, wußten wir nicht exakt, wie diese Schülerräte funktionieren sollten. Geboren war unser Schritt einmal aus der Wut über die jetzt erkannte nationalistische Verhetzung der letzten Jahre durch die meisten Oberlehrer und Professoren, und zum anderen lag der Rätegedanke damals in der Luft. Überall wurden Räte gebildet, warum nicht auch in der Schule, um den Schülern Mitbestimmungsrecht bei der Gestaltung von Lehrplänen und Unterricht zu geben? Der Direktor hörte uns mit eisiger Mine an, strich seinen Tirpitzbart und schickte uns in den – Karzer. Damals hatte nämlich die Reaktion ihren Novemberschock teilweise schon überwunden und nahm den Kampf auf. Reaktionäre Jugendorganisationen bildeten sich, die unter den großbourgeoisen und Mittelstandssöhnen am Elberfelder Realgymnasium schnell Anhang fanden.
Zu einem bestimmten Anlaß – nach meiner Erinnerung war es eine Kaisergeburtstagsfeier [27. Januar] – sollte auf dem sehr großen Schulhof ein „Rendezvous“ der deutschvölkischen Jugend stattfinden. Die Jungkommunisten zogen hin und sprengten das eilig verbarrikadierte Tor und die Kundgebung, wobei es einige Verletzte gab. Wenige Tage darauf wurde ich vor die Lehrerkonferenz geholt und der Anstiftung des Zusammenstoßes bezichtigt. Später, als in Abwehr des Kapp-Putsches Wuppertals Arbeiter die Polizeidirektion stürmten, entdeckten sie Akten, aus denen hervorging, daß ein Spitzel in die Elberfelder revolutionäre Jugendorganisation geschickt worden war, der die Politische Polizei auch über meine Tätigkeit unterrichtet hatte. Vor dem Professorenkollegium leugnete ich narürlich, begegnete aber nur ungläubigen Gesichtern. Eine direkte Bestrafung erfolgte nicht, doch erhielt ich die freundliche Aufforderung, von der Schule abzugehen.“
Nach dem Schulverweis vom Realgynasium Aue, heute Carl-Fuhlrott-Gymnasium am Küllenhahn, begann der Sechzehnjährige eine Lehre als Holzarbeiter. Ab 1923 arbeitete er als investigativer Journalist in der kommunistischen Presse, und von da an führte er ein unstetes und gefährliches Leben, gekennzeichnet durch Repression, Gefängnis, der Flucht vor dem deutschen Faschismus und dem Exil in verschiedenen Ländern bis zur Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1946.
Albert Norden stand nun im Zentrum des Kalten Krieges, denn er war ab der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und in den sechziger Jahren einer der wichtigsten innerdeutschen Akteure der DDR und nahm in dieser Position mittelbar auch Einfluss auf die europäische und Weltpolitik.
Im Politbüro der SED hat er von 1958 bis 1970 die Deutschlandpolitik der DDR, also das Verhältnis der DDR zur BRD massgeblich bestimmt. Militarismus, Reaktion und Faschismus stellte er Frieden, Sozialismus und Antifaschismus gegenüber. Der Höhepunkt war 1965 die Herausgabe des legendären „Braunbuchs der Kriegs- und Naziverbrecher in der Bundesrepublik und West-Berlin“.
Albert Norden war in der DDR eine Person des gesellschaftlichen Lebens, präsent in der Öffentlichkeit, in den Betrieben und Institutionen durch Besuche und Reden, in der Presse durch Beiträge, verantwortlich für viele Broschüren und Autor von einigen Bestsellern.
1963 hielt er eine Fernsehansprache zum Prozeß gegen BRD-Staatssekretär Hans Maria Globke, den faschistischen Schreibtischtäter und dann höchsten Beamten Adenauers.
International war er seit 1958 im Weltfriedensrat aktiv.
Ein kurzer Blick in ein beliebiges Inhaltsverzeichnis der Aufsätze und Reden zeigt sein breites Repertoire an Themen.
Dass die DDR das bessere Deutschland sei, findet sich natürlich in fast allen Texten und Reden der Nachkriegszeit. Und es ist klar, dass die kommunistische Bewegung des 20. Jahrhunderts parteilich an der Seite der Sowjetunion stand.
Eric Hobsbawm nennt den Zeitraum von 1917 bis 1989 das „kurze 20. Jahrhundert“.
Albert Norden war Handelnder in der grundsätzlichen Auseinandersetzung zwischen rechts und links, zwischen Ost und West, von 1919 bis kurz vor einem Tod 1982.
Aber auch 35 Jahre nach dem Ende der DDR und 42 Jahre nach dem Tod Albert Nordens besteht eine auffällige und bezeichnende Missachtung seiner objektiven Bedeutung, in der BRD im allgemeinen und in den politischen und historischen Wissenschaften im besonderen.
Auch in seiner Heimatstadt Elberfeld wird er totgeschwiegen oder verhöhnt.
Frau Dr. Ulrike Schrader, Leiterin der Begegnungstätte Alte Synagoge, bediente 2018 in der Westdeutschen Zeitung den Antikommunismus und den Hass auf die politischen Linke: „Man sagte ihm nach, er sei der Einzige gewesen, der im Politbüro etwas im Kopf hatte.“
Übrigens wurde die Begegnungstätte auf dem Grundstück der 1938 niedergebrannten Elberfelder Synagoge, Albert Nordens Elternhaus, errichtet.
Ist es naiv, vom Mainstream der bürgerlichen Gesellschaft BRD eine faire Beurteilung des Werkes Albert Nordens zu erwarten?
Warum dieses laute Schweigen?
Zur Annäherung an diese Fragen möchte ich folgende Texte unbedingt empfehlen.
Oben wurde bereits aus „Ereignisse und Erlebtes“, Berlin 1981 zitiert; hier schildert Albert Norden seine Kindheit und Jugend, sein Elternhaus und seine Familie, die journalistische Arbeit (inklusive Aufenthalt im Gefängnis Bendahl), in Düsseldorf, im Bergischen Land und dann in Essen. Die Autobiographie berichtet natürlich über viele weitere Stationen seines Lebens.
Das Gedenken an 500 Jahre Bauernkrieg steht unmittelbar bevor, und der Kampf um die Deutung der weltgeschichtlichen Ereignisse wird 2025 stattfinden.
1973 hat Albert Norden ein Buch zu dieser grossen Revolution geschrieben, beziehungsweise zu den mächtigen Gegnern der revolutionären Bauernschaft und ihrem Streben nach Demokratie.
Er berichtet in „Herrscher ohne Krone“ detailliert über den Aufstieg und die Macht des Clans der Fugger aus Augsburg.
„“Herrscher ohne Krone“ erscheint am Vorabend des 450. Jahrestages des Bauernkrieges. Hier besteht ein durchaus gewollter, weil tatsächlicher Zusammenhang. In dieser großen Klassenauseinandersetzung verkörperten die Fugger die finsterste Reaktion. Sie und ihresgleichen ermöglichten erst die Niederschlagung der Bauern. Denn zum Kriegführen gehört Geld, Geld und nochmals Geld – und das besorgten die Fugger: Sie finanzierten die Landsknechtsheere, die im Blut der Bauern wateten, und haben damals und in folgenden Jahrhunderten an Bauernmassakern teilgenommen.“
„In der Gegenwart leben sie in der BRD ein Milliardärdasein und inspirieren und finanzieren wie seit einem halben Jahrtausend die extreme Reaktion. Es führt ein gerader Weg von den Fuggern des Mittelalters zu jenem Familienoberhaupt Fürst Fugger, der an der Seite von Franz Josef Strauß nach 1945 zum Mitbegründer der CSU wurde, die er im ersten Bundestag vertrat und die ihn zum Schatzmeister und dritten Parteivorsitzenden machte.“
Zu diesem Buch wird ein ausführlicher Beitrag von mir erscheinen.
Wir stehen heute fassungslos vor dem beispiellosen Kriegsverbrechen, das seit 425 Tagen in Gaza verübt wird.
Schon 1926 ! hat Albert Norden die – bis heute gültigen – Ursachen des Nahost-Konflikts beschrieben. Während einer dreimonatigen Haftstrafe in Hamburg-Fuhlsbüttel wegen „öffentlicher Beleidigung“ hat er die Verhältnisse im zeitgenössischen Palästina einer materialischen Analyse unterzogen.
„1918 schon begann die Balfour-Deklaration sich auszuwirken. Ein Strom jüdischer Einwanderer lenkte sich ins Land, das in seiner Größe etwa Württemberg entspricht und dessen Einwohnerzahl 1918 dreiviertel Million betrug, darunter wohl 60 000 Juden. Heute ist dank der englisch-zionistischen Immigrationspolitik die Zahl der Juden um nahezu 100 000 gestiegen. Die britischen Imperialisten schlagen dadurch zwei Fliegen mit einer Klappe: Einmal vermehren sie die Zahl der ihnen ergebenen Elemente im Land, zum anderen lenken sie den Kampf der allarabischen Befreiungsbewegung von sich auf die Juden ab. Divide et impera – Teile und herrsche! Es war noch immer die Kolonialmethode der gentlemen of the merry old England. Wie sie es mit Hindus und Mohammedanern in Indien machen, so auch mit den Juden und Arabern in Palästina.“
Albert Norden sieht, dass „dieser Fall des Zionismus und seines Objektes Palästina weitesttragende politische Konsequenzen in sich birgt, die viel größere Kreise als nur die Juden betreffen.“
(Gegen den Zionismus, in: Fünf Jahrzehnte im Dienst seiner Klasse – Ausgewählte Aufsätze und Reden 1922 – 1974, Berlin 1974)
Unmittelbar nach dem dritten israelisch-arabischen Krieg 1967 sagte Albert Norden vor dem Friedensrat der DDR: „Als die Vereinten Nationen vor knapp 20 Jahren den Beschluß faßten, den Staat Israel und einen palästinensisch-arabischen Staat zu schaffen, da befleckten die kapitalistischen Herren den neugegründeten israelischen Staat mit einem Doppelverbrechen: Erstens vertrieben sie Hunderttausende Araber vom Boden des neuen Staates und verwandelten die übrigen in Staatbürger zweiter Klasse, und zweitens griffen sie über die von der UNO gesteckte Staatsgrenze hinaus und eigneten sich räuberisch unter Verletzung des UNO-Beschlusses fremde Gebiete an, durch deren Anexion sie den israelischen Staat um die Hälfte vergrößerten. Das war nackter Raub, der zur vollständigen politischen und sozialen Entrechtung der auf diesem Gebiet wohnenden Araber hinzugefügt wurde.“
Und er stellte fest: „Der Staat Israel ist nicht der Staat der Juden, die in ihrer übergroßen Mehrheit außerhalb Israels leben und gar nicht in Israel leben wollen. Der Staat Israel wird dominiert von einer Gruppe wildgewordener Eroberungspolitiker, die in den letzten Tagen frech ein Gebiet okkupiert haben, das dreimal so groß ist wie der Staat Israel.“
(An der Seite der arabischen Völker, in: In Aktion für das sozialistische Vaterland – Ausgewählte Aufsätze und Reden 1964-1969, Berlin 1969)
Heute Albert Nordens Schriften wirklich lesen zu können, ist nicht einfach.
Im Buchhandel erhältlich ist lediglich „Frieden ohne Sozialismus? Albert Norden über die Ursachen von Kriegen und die Möglichkeit, diese zu verhindern“ Verlag am Park, Berlin 2016
Das von seinem Sohn Johnny Norden, 1940 im New Yorker Exil geboren, und seiner Frau Conny sorgfältig zusammengestellte Buch präsentiert knappe Ausschnitte aus Publikationen und Reden, kann aber durch seinen geringen Umfang nur „eine Handreichung“ zum weiteren Studium sein.
Einige Artikel finden sich auf der Internetseite der VVN-BdA Wuppertal:
„Wuppertal – 23. Januar 1936“; „Olymischer Friede vor und hinter der Theaterkulisse (1936); „Haltbare internationale Kunstseidenfäden“ 1953; „Der Eichmann von Bonn“ Auszug (1960) „Das spanische Drama“ Auszug (1961)
Die Schriften von Albert Norden sind ausschliesslich antiquarisch zu erhalten; in den öffentlichen Bibliotheken der BRD stehen sie fast gar nicht, es finden sich nur einzelne Bücher – ohne Systematik, nach Zufallsprinzip. So besitzt die Universitätsbibliothek Wuppertal zwei seiner Bücher, die Autobiographie ist nicht dabei…
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