»Besorge dir ein Fahrrad. Du wirst es nicht bedauern, wenn du (über-) lebst.«

Über den Hintergrund eines in Radlerkreisen oft (fehl-) zitierten Ausspruchs von Mark Twain.

Mark Twain auf einem Hochrad aus der Sicht des Autors. Frei nach einer Karikatur aus den 1890er-Jahren.

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Gerade auf Websites zum Thema Radfahren stolpert man über folgendes Zitat Mark Twains: „Besorg Dir ein Fahrrad. Wenn Du lebst, wirst Du es nicht bereuen.“ – Hat er das so gesagt, ist das vielleicht aus dem Zusammenhang gerissen, wo liegen die historischen Wurzeln?

Tatsächlich kommt der Satz “Get a bicycle. You will not regret it, if you live.” in Twains Aufsatz “Taming the Bicycle” vor, der in dem Aufsatz “Taming the Bicycle” als Teil des Werks “What Is Man? and Other Essays by Mark Twain” 1917 veröffentlicht wurde (abrufbar auf Gutenberg.org [1]). In dem etwa 1893 verfaßten Text beschreibt Twain, wie er Anfang der 1880er-Jahre das Fahren auf den damals üblichen Hochrädern „einstudiert“ und tüchtig übt.

Hochrad fahren ist eine Kunst: Die Größe des Vorderrads ist dem Direktantrieb (weder Freilauf, noch Schaltung) geschuldet, um einigermaßen zügig fahren zu können. In Abhängigkeit der Körpergröße des Fahrers (Beinlänge) wurden Treibraddurchmesser zwischen 140 bis 180 cm (40 bis 60 Zoll) verwendet. Durch die hohe Sitzposition, den kurzen Radstand, die dadurch entstehende Kippgefahr nach vorne, führ(t)en Hindernisse und Bremsvorgänge leicht zu Stürzen mit dem Kopf voran (“header”) auf die Straße, wenn der Fahrer nicht rechtzeitig abspringen kann.

Abenteuer damals und heute

Twain beschreibt detailreich seine – heute würde man sagen – Trainingseinheiten, und stellt fest: »Ich bin alleine losgezogen, um Abenteuer zu suchen. Abenteuer muß man nicht suchen – das ist nur eine Floskel. Abenteuer kommt von ganz allein.« [2] Twain beschwert sich bereits über „kaum 13, 14 Meter Breite rechts und links eines Fuhrwerks“. In Wuppertal haben Radfahrer heute auf der Friedrichstraße gerade einmal drei Meter Breite zur Verfügung und müssen diese mit entgegenkommen Bussen teilen. Auf der Hünefeldstraße mit 10.000 bis 15.000 entgegenkommenden Fahrzeugen sind es knapp vier Metern Breite. Oder auf dem aufgemalten „Radfahrstreifen“ auf dem Wall verkehren reichlich Fußgänger- und Kfz. Gerade in Anbetracht von Twains Verhältnissen damals kann man die heutigen Wuppertaler Zustände nur als angeordnete Verkehrsgefährdung bezeichnen.

Der dumme Hund

Am Ende beherrscht Twain das selbständige Aufsteigen aufs Rad, und schreibt [3]:

»An einem Ende der Straße gab es eine Reihe niedriger Trittsteine [4], die im Abstand von einem Meter angeordnet waren. Selbst als ich schon recht gut lenken konnte, hatte ich solche Angst vor diesen Steinen, daß ich immer gegen sie stieß. Das waren die schlimmsten Stürze, die ich je auf dieser Straße hatte – von jenen, durch Hunde verursachten, abgesehen. Ich habe gelesen, daß kein Geübter schnell genug ist, einen Hund zu überfahren, weil ein Hund stets in der Lage ist auszuweichen. Da mag etwas wahres dran sein. Ich denke aber, er konnte den Hund nicht überfahren, weil er es bewußt versucht hat. Ich habe dies nicht bewußt versucht. Trotzdem habe ich jeden Hund überfahren, der mir über den Weg lief. Ich denke, das macht einen großen Unterschied. Wenn du versuchst, den Hund zu überfahren, weiß er, wie er reagieren muß. Wenn du aber versuchst, ihn zu verfehlen, weiß er nicht, wie er reagieren muß und springt jedes Mal in die falsche Richtung. Nach meiner Erfahrung war das immer so. Selbst wenn ich in der Lage war, an jedem Fuhrwagen vorbeizukommen, so überfuhr ich immer einen der Hunde, die mir beim Üben zusahen. Gern kamen sie alle und sahen mir zu, denn in unserer Nachbarschaft war wenig los, um einen Hund zu beschäftigen. Es dauerte eine Weile, bis ich lernte, einen Hund zu verfehlen, aber selbst das gelang mir.«

Verkehrsplanung historisch kurz erläutert.

Twain würde im heutigen Wuppertal schreiben: „Auf vielen Radrouten gab es immer viel von diesen historischen Kopfsteinpflastern. Ich hatte das Gefühl, daß Radrouten möglichst viel davon haben müssen. Die Unfälle, insbesondere bei Nässe, waren die schlimmsten, die ich auf diesen Straßen hatte – abgesehen von jenen mit den blauen Bussen. Ich habe gelesen, daß man diese auf den engen Gassen wie der Friedrichstraße gar nicht verfehlen kann. Da mag etwas wahres dran sein; ich denke aber: Je mehr man sie beachtet, desto eher gehen sie davon aus, der Radfahrer werde schon ausweichen, und fahren unbeirrt weiter. Ist man jedoch scheinbar unsicher und fährt auf sich konzentriert in Schlangenlinien, erzürnen sie sich zwar akustisch, halten sich aber fahrerisch zurück.“

Twain schließt seinen Essay mit der Feststellung, er könne nun bewußt dorthin lenken, wohin er fahren wolle, und dem eingangs erwähnten Satz: “Get a bicycle. You will not regret it, if you live.” – »Besorg‘ dir ein Fahrrad. Du wirst es nicht bedauern, wenn du (über)lebst.« “Live” ist hier eher mit „überleben“ (“to remain alive”) gleichzusetzen, denn der Halbsatz „wenn du lebst“ macht hier wenig Sinn: Tote fahren bekanntlich kein Fahrrad. Der Satz ist von Twain eher darauf gemünzt, das Radfahren der Kunst des Fahrens wegen zu versuchen, nicht um sich im Verkehr totfahren zu lassen.

Quellen und Anmerkungen

[1] “Taming the Bicycle” , “What Is Man? and Other Essays by Mark Twain”, veröffentlicht 1917,
https://www.gutenberg.org/cache/epub/70/pg70-images.html

[2] “I started out alone to seek adventures. You don’t really have to seek them—that is nothing but a phrase—they come to you.”

[3] “There was a row of low stepping-stones across one end of the street, a measured yard apart. Even after I got so I could steer pretty fairly I was so afraid of those stones that I always hit them. They gave me the worst falls I ever got in that street, except those which I got from dogs. I have seen it stated that no expert is quick enough to run over a dog; that a dog is always able to skip out of his way. I think that that may be true: but I think that the reason he couldn’t run over the dog was because he was trying to. I did not try to run over any dog. But I ran over every dog that came along. I think it makes a great deal of difference. If you try to run over the dog he knows how to calculate, but if you are trying to miss him he does not know how to calculate, and is liable to jump the wrong way every time. It was always so in my experience. Even when I could not hit a wagon I could hit a dog that came to see me practice. They all liked to see me practice, and they all came, for there was very little going on in our neighborhood to entertain a dog. It took time to learn to miss a dog, but I achieved even that.”

[4] Trittsteine oder auch Schrittsteine sind zumeist quaderförmig bearbeitete Steine, die das Begehen sumpfigen oder schmutzigen Terrains erleichtern oder – als Brückenersatz – die Überquerung seichter Wasserläufe und Teiche ermöglichen.

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Kommentare

  1. Susan Twig sagt:

    Ich wäre vorsichtig, Mark Twain Nachhilfe bei der Verbfindung zu geben. Für „überleben“ kennen selbst Amerikaner das Wort „survive“, und Englisch konnte Herr Twain ziemlich gut.
    Die Beschreibung würde ich lieber auf E-Scooter übertragen: Die Fahrer haben großen Respekt vor Steinkanten und Anfänger brauchen meist die vollen 13 – 14 Meter Bürgersteigbreite.
    Sie werden trotzdem immer wieder aufsteigen, weil es Spaß macht und der Pferdesattel heute etwas niedriger liegt…

    1. N. Bernhardt sagt:

      Es geht doch anstelle der „Verbfindung“ eher darum, wie man seinen Text im heutigen Kontext ins Deutsche übersetzt. Ein Toter kann kein Fahrrad fahren. An seiner Statt stellt man sog. Ghostbikes auf. Zu Lebzeiten Twains gab es bestenfalls Fuhrwerke, die mit nahezu Schrittgeschwindigkeit durch die Straßen fuhren. Wenn, dann kann der zitierte letzte Satz also nur bedeuten, das Radfahren zu erlernen, aucjh wenn damit einige Stürze verbunden sind, nicht um sich in einem damals noch nicht absehbaren dichten Verkehr in dubio pro autocineto gefährden oder gar totfahren zu lassen.

      1. Susan Tipsy sagt:

        Okay, ich wusste nicht, dass im damaligen Kontext das Fahrradfahren unter Toten üblicher war. Vielleicht wollte Twain den Grund für die unnötige Einschränkung „if you live“ aber auch ganz bewusst der Phantasie seiner Leser überlassen, der Schurke. Bei Ihnen hats jedenfalls geklappt.
        Auf den schrulligen Humor des 19. Jahrhunderts! Wuppdika.

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