11.06.2024N. Bernhardt
Die Tönniesstraße als „Fahrradstraße“
Seit Ende vergangenen Jahres ist die Tönniesstraße als „Fahrradstraße“ ausgewiesen, weil es angeblich „in der Tönniesstraße einen Zweiradanteil von nahezu 50% gibt“ (VO/1557/22). [1] Die Straße sei „offizieller Schulweg der Grundschule Dieckerhoffstraße“, daher wird in der Anordnung einer Fahrradstraße „eine Verbesserung der Verkehrssicherheit für den Fußgänger und den Radfahrer gesehen“ – und 15.000 Euro aus dem Fenster geworfen.
Die Argumentation mit dem Schulweg der Grundschule Dieckerhoffstraße ist umso bemerkenswerter, weil Amt 104 sich sonst regelmäßig weigert, an Schulen und Kindergärten ohne direkten Zugang Tempo 30 anzuordnen, wo mit typischem Schülerverkehr zu rechnen ist, vgl. Grundschule Kratzkopfstraße, vgl. beide Kita am Westfalenweg usw.
Eine Fahrradstraße ist nicht zur „Verkehrsberuhigung“ da, sondern soll auf bedeutenden Radrouten den (künftigen) Radverkehr bündeln und dadurch sicherer machen. [2] Daher ist für die Tönniesstraße die Einrichtung als verkehrsberuhigter Bereich (blaues Schild im Eingangsfoto) wesentlich zielführender für die Fußgängersicherheit.
Als Fahrradstraße ist die Tönniesstraße hingegen – abgesehen von der „geringen Verkehrsbelastung“ – gänzlich ungeeignet:
– Die Straße ist zu weit vom Schuß, als daß sie eine sinnvolle Alternative für die parallel verlaufende Badische Straße wäre.
– Die Straße weist am Beginn der Kreuzung Schmitteborn eine für Radfahrer völlig ungeeignete Steigung von über zwölf Prozent auf. Heißt: Ein E-Scooter bleibt stehen. Im Gegensatz weist die parallel verlaufende Badische Straße maximal sechs Prozent Steigung auf, die für Radfahrer wesentlich einfacher zu bewältigen ist. Heißt: Ein E-Scooter fährt noch mit 20 km/h bergauf.
– Die Straße weist keinen Gehweg auf.
– Die Straße ist letztlich wieder eine verkappte Tempo-30-Zone mit „Anlüger frei“. [4]
– Die Straße ist nur 3,0 bis 3,5 Meter breit.
– Dort, wo die Straße im nördlichen Bereich etwas breiter ist, muß diese unbedingt durch Parkstände auf 3,0 bis 3,5 Meter reduziert werden.
– Im Gegensatz dazu sieht der Leitfaden Fahrradstraße der AGFS [2], deren Einhaltung das Amt 104 je nach Interpretation bestätigt oder ablehnt [3], bei Kfz-Verkehr bis 2.500 Kfz/24h und – da ja „die Hälfte“ der Fahrzeuge Radfahrer sind – bei hohem Radverkehrsaufkommen eine notwendige Fahrgassenbreite von mindestens 5,0 Meter vor.
Selbst wenn nur ein geringes Radfahraufkommen angenommen wird, beträgt die notwendige Fahrgassenbreite mindestens 4,0 Meter. Hinzuzurechnen sind regelmäßig Begleitstreifen (+0,5 m pro Seite) und Begleitlinie (+0,25 m pro Seite).
Eine Fahrradstraße mit Kfz-Verkehr muß also auch bei „geringem Radverkehrsaufkommen“ mindestens eine Straßenbreite von 5,5 Meter aufweisen. Die Tönniesstraße mit lediglich 3,5 Meter ist hierfür untauglich.
Das Foto zeigt direkt, wer hier Vorfahrt hat. Der Radverkehr dürfte theoretisch nebeneinander fahren, kann es aber – wie in Wuppertal üblich – nicht.
Die Straße ist schlecht einsehbar, durch die geringe Breite besteht keine Ausweichmöglichkeit. Büsche auf der Bahnseite verengen zusätzlich die nutzbare Straßenbreite.
Absturzgefahr
Absturzgefahr: Das Geländer zum metertiefen Abhang der Bahnstrecke nach Remscheid ist auf rund der Hälfte der Länge total marode. Es soll Personen Schutz vor Abstürzen bieten, stürzt aber selbst bald ab. Auch ist der Einsatz derartiger Geländer mit einem derart großem Abstand der horizontalen Streben unzulässig, weil ein stürzendes Kind dazwischen fallen und den Abhang hinunterstürzen kann. Auf der naturbegrünten Bahnbrücke Leibuschstraße ist ein standesgemäßes Geländer montiert. Auf der gegenüberliegenden Seite der Bahnstrecke ist entlang der Badischen Straße ein ordentlicher Metallzaun installiert.
Die Straße ist teilweise in einem miserablen Zustand. Mit einem E-Scooter kann man sich hier auf den – hinter Kurve schlecht einsehbaren – Schlaglöchern leicht auf die Fresse legen.
Die obengenannten Bedingungen zwingen Radfahrer zum Langsamfahren, um nicht sich und andere (vor allem Fußgänger) zu gefährden, § 1 StVO. Da fragt man sich, ob da jemand was im Tee hatte, um auf die Schnapsidee zu kommen, die steile, schmale, weit vom Schuß liegende Tönniesstraße als Fahrradstraße einzurichten. Sie ist hier gänzlich ungeeignet, das oberste Prinzip der Sicherheit und Flüssigkeit des Radverkehrs zu gewährleisten.
Quellen und Verweise
[1] Tönniesstraße „Verkehrskonzept“ Fahrradstraße
https://ris.wuppertal.de/vo0050.asp?__kvonr=28399
[2] Leitfaden Fahrradstraßen der AGFS. Die Stadt Wuppertal rühmt sich der Mitgliedschaft in diesem Verein.
https://www.agfs-nrw.de/fachthemen/radverkehr/fahrradstrassen
Kapitel 2.1: Grundsätze der Planung.
Kapitel 3: Hinweise zur Bemessung.
Kapitel 2.12:
– Die Begleitlinie bildet das kommunenübergreifende, wiedererkennbare Element einer Fahrradstraße. Sie stellt sicher, dass alle Verkehrsteilnehmenden die veränderte Verkehrssituation sowie die Bevorrechtigung des Radverkehrs auf Fahrradstraßen wahrnehmen. Die Begleitlinie besteht aus zwei Teilen: einer inneren und einer äußeren Begleitlinie (→ Markierung). Die Breite der inneren Begleitlinie ist der Breite der Fahrgasse zuzurechnen.Die Breite der äußeren Begleitlinie ist der Breite des
Begleitstreifens bzw. des Sicherheitstrennstreifens zuzurechnen.
– „Der Begleitstreifen soll einen Sicherheitsabstand zum Seitenraum bzw. zum Gehweg herstellen. Er beinhaltet die äußere Begleitlinie. Die Breite des Begleitstreifens beträgt im Regelfall 0,50 m und kann bis zu 0,75 m betragen. Der Begleitstreifen sollte aufgrund der Verwechslungsgefahr mit einem Schutzstreifen nicht breiter als 0,75 m ausgeführt werden.“
[3] Leitfaden Fahrradstraße der Arbeitsgemeinschaft fußgänger- und fahrradfreundlicher Städte, Gemeinden und Kreise in NRW (AGFS), VO/0586/23,
Zitat: „Da die Leitfäden bereits bei Planungen Berücksichtigung finden, ist der Antrag obsolet und
wird daher abgelehnt.“
https://ris.wuppertal.de/vo0050.asp?__kvonr=30301
[4] Fahrradstraße in Wuppertal als verkappte Tempo-30-Zonen,
Weiter mit:
Ausschlußkriterium für die Tönniesstraße als Fahrradstraße ist
(a) die mangelnde Straßenbreite von 3,5 m,
(b) die schlechte Übersichtlichkeit,
(c) die fehlenden Gehwege.
Zumindest wenn man die Leitlinien beachtet und nicht die Mitgliedschaft in der AGFS mit „Arbeitsgemeinschaft friedhofsfördernder Stätten“ übersetzt – vgl. nachfolgenden Artikel über die Allee.
Da sich für Kfz freigegebene „Fahrradstraßen für Alle“ nicht von Tempo-30-Zonen unterscheiden, vgl. Pressemitteilung VG Hannover, ist hierfür nur eine Fahrgasse von 3,05 m erforderlich. Das hat dann – außer einem Schild „Fahrradstraße“ als Publicity-Stunt – nichts mit einer (sinnvollen) echten Fahrradstraße gemein.
Ursprünglich galt in der Tönniesstraße doch mal „Verbot für Fahrzeuge aller Art“ (Vz 250) mit Zusatz „Anlieger + Radfahrer frei“. Jetzt ist die Straße für Radfahrer, Motorräder, Kfz UND Anlieger freigegeben – auch wenn es vermutlich wieder anders gemeint ist.
Eine 12%-ige Steigung ist aber kein Ausschlusskriterium für Radverkehr. Für dieses kurze Stück braucht man nicht mal einen Elektromotor oder übermäßig viel Kondition. Gangschaltung reicht. Und wer nicht mag, kann nach wie vor die Badische Straße nehmen. Oder ist die jetzt gesperrt?
Ein Geländer, das keinen stürzenden Radfahrer halten kann, kann das auch nicht mit einem stürzenden SUV. Straßenschäden oder Absturzgefahren sind für alle Verkehrsarten unangenehm aber kein Argument gegen eine Fahrradstraße.