Die weitgehend vergessene „Volksabstimmung“ vom 19. August 1934

Projektstart: Wuppertaler Wahllokale als Orte der Demokratiegeschichte

 

 

 

Wir haben heute das Projekt „Wuppertaler Wahllokale als Orte der Demokratiegeschichte“ mit einer Projektvorstellung und der Übergabe der ersten Gedenktafel an die Realschule Hohenstein gestartet. Im Wahllokal 35 stimmten 42 % gegen Hitler.

Unser Projekt ist vielleicht etwas ungewöhnlich, wir möchten 18 Wuppertaler Wahllokale zu Orten der Demokratiegeschichte „küren“. 90 Jahre nach der heute in der Öffentlichkeit und Geschichtswissenschaft weitgehend vergessenen Volksabstimmung vom 19. August 1934 möchten wir den Mut und den Widerstandsgeist der Wuppertaler Quartiersbewohner:innen würdigen, die vor 90 Jahren bei der Volksabstimmung die von der SA und Polizei kontrollierten Wahllokale aufsuchten und sich trauten gegen die Nazis zu stimmen.

Die »Volksabstimmung« wurde von den Nationalsozialisten kurz nach dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg angesetzt und sollte die »Vereinigung« des Amtes des Reichspräsidenten mit dem Amt des Reichskanzlers absegnen und die absolute Macht für Adolf Hitler legitimieren. Reichsweit stimmten 10,1 % mit »Nein«, in Großstädten gab es noch deutlich schlechtere Ergebnisse für das NS-Regime: Aachen 28,3 %, Lübeck 20,6 %, Hamburg 20,4 %, Köln 19,8 % und Berlin 18,5 %. In Wuppertal stimmten 15,89 % mit Nein. In Wuppertal-Barmen waren es 19,05 %. Spitzenreiter der Nein-Stimmen war Wuppertal-Ronsdorf mit 21,47 %.

In Wuppertal gab es 18 Wahlbezirke, ehemalige Hochburgen der Arbeiterparteien und des katholischen Zentrums, in denen 30-42 Prozent der Wähler:innen mit Nein stimmten. Diese Stadtteile waren ausgesprochene Arbeiterviertel mit entsprechender sozialer und kirchlicher, speziell sozialistischer und katholischer Infrastruktur und einem ausgeprägten Vereinswesen.

Nach einem Jahr und 6 Monaten NS-Herrschaft sagten diese Wähler:innen bis zu 42 % Nein zu Hitlers Gewaltregime. Nein zu den vielen Toten und Misshandelten, Nein zu bestialischer Folter im KZ Kemna und in den SA-Unterkünften, Nein zu den tausendfachen Verhaftungen und Aburteilungen durch ordentliche Gerichte, Nein zu erzwungener Flucht in die Nachbarländer.

 

Der Wahltag

 

Mangels aussagekräftiger Quellen wissen wir nur wenig von dem konkreten Wahlablauf in Wuppertal. Wie die Fotos und Artikel aus der Wuppertaler NS-Presse zeigen, waren die Eingänge der Wahllokale wie auch die Wahllokale selbst offensiv mit Hitler-Bildern und Plakaten ausgestattet. SA und Schutzpolizei waren für die »Ordnung« zuständig, Auch die Wahlvorstände in den einzelnen Wahllokalen waren in Parteiuniform erschienen.

Wer an der Abstimmung im Wahllokal teilgenommen hatte, bekam von den uniformierten Nationalsozialisten, eine Plakette gegen Spende angeboten, die die Wahlteilnahme dokumentieren sollte. Nach anderen Informationen bekamen Wähler:innen eine Karte mit »hat gewählt« ausgehändigt.

Inwieweit Wahlkabinen in allen Wahllokalen vorhanden waren und vor allem gefahrlos genutzt werden konnten, ist nicht bekannt. In der Nachwahl-Berichterstattung wurde jedenfalls der angeblich vorbildliche Wahlablauf herausgestellt.

Schon früh am Morgen »weckten« Musikgruppen der SA und anderer NS-Formationen in ausgewählten Quartieren das »Wahlvolk« und mahnten zur Wahlteilnahme. Das entscheidende Druckmittel waren aber die angekündigten Schleppdienste der SA. Spätestens am Mittag konnten die »Wahlverweigerer« anhand der Wahllisten in den Wahllokalen identifiziert werden. »Wahlverweigerer« sollten dann offensiv zu Hause besucht werden. Die NS-Zeitung Volksparole schrieb: »Der frühe Nachmittag sah dann einen wohlorganisierten Schlepperdienst um die Kranken und Gleichgültigen an die Wahlurne zu bekommen.« Die Wahlbeteiligung war mit 95 % sehr hoch, die aggressive Bewerbung der Volksabstimmung und die Drohung, Nichtwähler:innen ausfindig zu machen, hatte offensichtlich Erfolg.

Umso erstaunlicher ist es, dass in den alten Hochburgen der Arbeiterparteien und des katholischen Zentrums so viele Wähler:innen sich trauten mit Nein zu stimmen.

 

Hintergrund:

 

Der politische Stellenwert der Volksabstimmung, die nur 17 Tage nach dem Tod des Reichspräsidenten Hindenburg stattfand, war für das NS-Regime enorm. Das NS-Regime, so die Einschätzung des britischen Wirtschaftshistorikers Adam Tooze, habe zwischen März und September 1934 »am Rande einer umfassenden sozialwirtschaftlichen Krise« gestanden, wie nie wieder in seiner Geschichte. Wirtschaftlich war das NS-Regime durch extremen Devisen- und daraus resultierenden Rohstoffmangel bedroht.

Insbesondere in den Städten wie Wuppertal, die von der Textilindustrie dominiert waren, ging die Arbeitslosigkeit und Kurzarbeit nur wenig zurück. Die Sorge vor dem nächsten Hungerwinter war groß und konnte den Menschen auch nicht durch die groß angekündigte Versorgung mit kostenlosen Einkellerungskartoffeln genommen werden.

Zudem hatte Hitler nur wenige Wochen vorher, am 30. Juni 1934 mit Hilfe der SS die SA blutig entmachtet, den SA-Stabschef Ernst Röhm, viele SA Führer und auch einige konservative und katholische Hitler-Gegner wie Kurt von Schleicher, Erich Klausener und Adalbert Probst ermorden lassen. Auch die fast zerschlagene Linke schöpfte wieder Hoffnung. In vielen Städten begann vor allem die KPD mit dem Wiederaufbau ihrer Parteistrukturen und orientierte in einzelnen Städten auf eine Nein-Kampagne bei der anstehenden Volksabstimmung.

 

Reaktionen auf das Ergebnis

 

Der alte Wuppertaler Nationalsozialist und Gauleiter von Hamburg Karl Kaufmann schrieb Rudolf Heß am 27.8.1934 : Das Hamburger Ergebnis der Abstimmung mit 20 % Nein-Stimmen sei die »tiefste Enttäuschung meiner langjährigen Tätigkeit in der Partei«.

 

 

Viktor Klemperer schrieb in sein Tagebuch:

»Die 5 Millionen Nein und Ungültig gegen 38 Millionen Ja bedeuten ethisch sehr viel mehr als nur ein Neuntel vom Ganzen. Es hat Mut und Besinnung dazu gehört. Man hat alle Wähler eingeschüchtert und betrunken mit Phrasen und Festlärm gemacht. Ein Drittel hat aus Angst, eines aus Betrunkenheit, eines aus Angst und Betrunkenheit Ja gesagt. Eva und ich haben ihr Nein auch nur aus einer gewissen Verzweiflung und nicht ohne Furcht angekreuzt.« Klemperer fährt fort: »Dennoch, trotz der moralischen Niederlage: Hitler ist unumschränkter Sieger, und ein Ende ist nicht abzusehen.«

 

Pressereaktionen

 

Vollmundig hatte die lokale NS-Zeitung »Volksparole« vor der Abstimmung ein besseres Ergebnis als bei der Volksabstimmung im November 1933 angekündigt. Die Wuppertaler

Nationalsozialisten konnten aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden sein. Sie errangen im Vergleich zur Volksabstimmung vom 12.11.1933 40.392 weniger Ja-Stimmen. Interessant ist, dass die Wuppertaler Ergebnisse weder von den lokalen NS-Funktionären noch von der Lokalpresse kommentiert wurden. Auf den überregionalen Seiten der Wuppertaler Presse, aber auch in Aachener Zeitungen gibt es folgende interessante Reaktionen.

 

Zitiert nach Echo der Gegenwart, Aachener Rundschau vom 21.9.1934

 

Der Angriff vom 20.8.1934: „Man kann die Gebiete mit den meisten Nein-Stimmen beinahe geographisch einzeichnen. Es sind Kreise der Großstädte und das Gebiet zwischen Rhein und Luxemburg-Belgien. Hier haben wirtschaftliche und konfessionelle Gründe mitgespielt. Mancher Arbeitsloser von Hamburg, Berlin, Leipzig oder aus den Großstädten des Ruhrgebietes hat geglaubt, Hitlers Vierjahresplan zum Wiederaufbau müsse sich doch beschleunigen lassen, um auch ihnen Arbeit und Brot zu bringen. Das ist ein Wunderglaube gewesen, der sie enttäuscht, ein Wunderglaube, wie ihn die marxistischen Führer immer gepredigt haben und der in vielen Menschen heute noch festsitzt. Das Nein dieser Arbeiter liegt in dem Nein eines ungeduldigen Wunderglaubens. Das Gebiet zwischen Rhein und Belgien-Luxemburg hat seine besondere Struktur. Es ist auch in den letzten Monaten eine rege Propaganda von der Grenze zu beobachten gewesen. Im Aachener Revier sind an einem Tage allein 150.000 Flugblätter über die Grenze geschafft worden. Die Auseinandersetzungen wegen der katholischen Jugendverbände hat in manchen kleinen Orten zu jenen Reibereien geführt, an denen kleine Geister so sehr Mücken fanden, daß sie darüber den Gedanken des Reiches verleugnen. Es ist ein Gebiet, das auch bei der Machtübernahme des Nationalsozialismus noch eine Domäne des Zentrums war. Rückfällige Zentrumsgängelei hat die kleine Herde der Nein-Sager vor dem Wahllokal beflüstert.“

 

Die Deutsche Allgemeine Zeitung (DAZ) vom 20.8.1934

 

„In einigen großstädtischen Bezirken wie in Hamburg und Berlin haben marxistische und kommunistische Splittergruppen das Ergebnis beeinflußt, in anderen Industriebezirken nicht in demselben Maße. Im Rheinland haben kirchliche Fragen gewirkt, während das katholische Bayern mit seinen Ja-Stimmen über dem Durchschnitt liegt.“

 

»Das Ergebnis«, Volksparole vom 20.8.1934 – Wuppertaler NS-Zeitung

 

»Man hat sich lange bemüht, den Anschein zu erwecken, als bestehe eine Art Terror. Den Lesern der ausländischen Zeitungen wurden die Dinge so dargestellt, als habe jeder eine Strafe oder eine Maßregelung zu befürchten, der es etwa wagen sollte, mit Nein zu stimmen.

Die abgegebenen Nein-Stimmen – die keineswegs weggeleugnet werden sollen – machen solchen Darstellungen ein Ende. Der Beweis der unbedingten Wahlfreiheit und der unbedingten Wahrung des Wahlgeheimnisses ist erbracht. So bedauerlich unter innerpolitischen Gesichtspunkten die Tatsache sein mag, daß es noch Menschen gibt,

die nicht erkannt haben, welche Stunde für Deutschland geschlagen hat: das Märchen vom Wahlterror in Deutschland ist zu Ende.«

 

»38 Millionen Ja-Stimmen«, Bergisch-Märkische Zeitung (BMZ) vom 20.8.1934

 

»Die Tatsache der 38 Millionen Ja-Stimmen steht fest. Gewiß, daneben stehen 4,28 Millionen Nein-Sager. Was beweisen sie? Zunächst einmal soviel, daß entgegen den geschäftig verbreiteten Verleumdungen der fremden Presse in Deutschland kein Wahlterror geherrscht hat, daß die Abstimmung frei und unbeeinflußt vor sich gegangen ist.

Im übrigen aber wissen wir, daß Menschen sich nicht einfügen können und sich nicht einfügen wollen. Bei uns sind es etwa 10 v. H. oder etwas mehr. […] Dabei sei die Tatsache, noch einmal hervorgehoben, daß in einer Reihe von Wahlkreisen die Abstimmenden offenbar von Gründen sich haben leiten lassen, die sich nicht aus der

Politik des Führers ergeben. Das ist gewiß bedauerlich, muß aber

hervorgehoben werden, wenn man das Ergebnis richtig werten will.

In den vier Millionen Nein-Stimmen steckt noch eine Reserve von Ja-Stimmen für Adolf Hitler, die unseres Erachtens eines Tages wieder frei und verfügbar werden wird. Was darüber ist – das allerdings sind die ewig Unbelehrbaren. Ihnen ist nicht zu helfen, mit ihnen ist keine Politik und kein Staat zu machen.«

 

Alfred Ingemar Berndt, Hauptschriftleiter im Deutschen Nachrichtenbüro, Das Ergebnis, Generalanzeiger (GA) vom 20.8.1934:

 

»Diese Neinsager rekrutieren sich im wesentlichen aus jenen Kreisen, die zu allen Zeiten abseits standen, die zu keiner aufbauenden Arbeit fähig sind, und deren Aktivität sich lediglich in Nörgeleien und zerstörender Kritik erstreckt. Wenn man die Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise betrachtet, dann wird man auch feststellen können, daß

dort, wo aus bestimmten Gründen der Rückgang der Arbeitslosigkeit prozentual mit den in anderen des Reiches nicht Schritt halten konnte, die Zahl der Nein-Stimmen vielleicht etwas höher ist als anderswo. […] Eine höhere Zahl von Nein-Stimmen haben nur einige Industrie- und Hafenstädte, in erster Linie solche, deren Wirtschaftsorganismus vom Außenhandel und der Exportindustrie abhängig ist.«

 

Die Projektidee

 

Ausgehend von diesen Wahllokalen möchten wir unsere Projektarbeit starten. Wir möchten die Widerständigkeit dieser mutigen Minderheit würdigen, in dem wir die Widerstandsgeschichten aus diesen Stadtteilen rekonstruieren und in enger Kooperation mit den Angehörigen die weitgehend vergessenen Widerstandskämpfer:innen ehren.

 

1. In jedem genannten Stadtteil versuchen wir an den historischen Orten kleinere Veranstaltungen und Begegnungen in Kooperation mit den Schulen und Vereinen zu organisieren. Wir werden für jeden Stadtteil eine mobile Ausstellung mit Roll-Ups, Großfotos und Gedenktafeln mit der jeweiligen Widerstandsgeschichte erarbeiten. Die Ergebnisse werden wir als Stadtteilbroschüren drucken und auch online stellen.

 

2. Wir werden eine Website erarbeiten und programmieren, die für das Stadtgebiet von Wuppertal die Wahlergebnisse von 1930-1934 auf Wahlbezirksebene darstellt und gleichzeitig die Herkunft der Widerstandskämpfer:innen und NS-Verfolgten bis zur Straßen-Ebene rekonstruiert.

 

3. Von August 2024 bis Ende 2025 werden wir in Kooperation mit anderen gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere mit den Angehörigen der NS-Verfolgten aus dem In- und Ausland eine Reihe von Veranstaltungen organisieren, die Bezug nehmen, auf die Ereignisse von vor 90 Jahren, insbesondere auf den Wiederaufbau von Freien Gewerkschaftsgruppen im Sommer 1934 in Wuppertaler Betrieben und der brutalen Zerschlagung des Wuppertaler Widerstands ab Januar 1935.

 

Einen Schwerpunkt in der Projektarbeit und auch in den Teilausstellungen werden wir auf die „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“ legen. „Vorbereitung zum Hochverrat“ – so lautete der Vorwurf gegen 1.900 Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter aus Wuppertal, Velbert, Remscheid und Solingen, die ab Januar 1935 von der Gestapo festgenommen wurden. 17 starben an den Folgen der brutalen Verhöre. Bis 1937 wurden 649 Mitglieder der inzwischen verbotenen Arbeiterorganisationen in Massenprozessen vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Hamm verurteilt. Die Ereignisse gingen als „Wuppertaler Gewerkschaftsprozesse“ in die Geschichte ein und wurden durch die solidarische Arbeit des „Wuppertal-Komitees“ in Amsterdam weltweit bekannt.

 

Zum Forschungsstand:

 

Zu den Wuppertaler Ergebnissen bisher nur die Studie von David Magnus Mintert: Das frühe Konzentrationslager Kemna und das sozialistische Milieu im Bergischen Land, Diss Bochum 2007, S. 305, 307-308. Er bezieht sich auf: Otmar Jung: Plebiszit und Diktatur. Die Volksabstimmungen der Nationalsozialisten, Tübingen 1995 und auf Karl Dietrich Bracher: Stufen der Machtergreifung, in: Ders., Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz (Hg.): Die nationalsozialistische Machtergreifung, Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschland 1933/34, Opladen/Köln 1960, S. 29-368. Zuletzt: Anselm Faust/Bernd-A. Rusinek/Burkhard Dietz (Bearb.): Lageberichte rheinischer Gestapostellen. Band I: 1934 ? Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde, Bd. LXXXI), Düsseldorf 2012, S. 290-293, 311, 410. Peter Longerich: Abrechnung. Hitler, Röhm und die Morde vom 30. Juni 1934, Graz 2024.

 

 

Kontakt: info@wuppertaler-widerstand.de

 

Gefördert von der Stiftung „Orte deutscher Demokratiegeschichte“

 

 

 

 

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