12.03.2018Gedenkbuch Wuppertal
Es gab kein hastig einberufenes Standgericht.
Auszug aus:
Lieselotte Bhatia • Stephan Stracke
Vergessene Opfer. Die NS-Vergangenheit der Wuppertaler Kriminalpolizei
Das Burgholz-Massaker – Strafverfolgung und Gedenken
Ausgangspunkt unserer neuen Recherche ist die Auseinandersetzung um eine Gedenktafel für die Opfer des Burgholz-Massakers in der Nähe des Tatortes. Seit 2004 gibt es Bemühungen, am Tatort einen würdigen Gedenk- und Erinnerungsort für die Opfer zu schaffen. Seit 2016 unterstützte die Bezirksvertretung Cronenberg das Vorhaben.1 Im Mai 2016 übernahm der damalige Leiter des Historischen Zentrums, Eberhard Illner, im Auftrag der (städtischen) „Kommission für eine Kultur des Erinnerns“ die inhaltliche Federführung für die Formulierung des Gedenktafeltextes.
Das Protokoll der Kommission für eine „Kultur des Erinnerns“ fasste den Auftrag seinerzeit so zusammen: „Herr OB Mucke schildert die Vorgeschichte. Die BV Cronenberg und verschiedene Initiativen (Frau Bathia, Verein zur Erforschung der sozialen Bewegung und Verein Spurensuche) wünschen sich schon seit langem die Einrichtung eines Erinnerungsortes im Burgholz. Lt. Herrn Dr. Illner gebe es Differenzen bei der Einordnung der historischen Fragestellung und der Bewertung. Die Verbrechen im Burgholz müssten sehr sorgfältig historisch aufgearbeitet werden. Es gebe Akten des britischen Militärgerichts von Verfahren gegen Wuppertaler Kriegsverbrecher, die im Public Record Office in London-Kew aufbewahrt würden. Er schätzt, dass es auch Material in Washington gebe. Es gehe nicht nur [um] ein Schild, sondern die ganze Geschichte müsse auch als Thema für Schulen ausführlich und historisch einwandfrei dargestellt werden.“2
Schließlich wurde das Historische Zentrum beauftragt, auch in den National Archives in Kew die Untersuchungen zum Burgholz Case aufzunehmen: „Die Recherchen in London sollen in diesem Jahr erfolgen und in der nächsten Sitzung der Kommission vorgestellt werden. Bis spätestens Februar 2017 soll das Ergebnis umgesetzt werden.“3
Im Dezember 2017 legte Eberhard Illner einen ersten Gedenktafelentwurf vor. Die Ergebnisse waren aus unserer Sicht leider nicht „historisch einwandfrei“ und „sorgfältig historisch aufgearbeitet“ wie postuliert, sondern im Text finden sich z. T. gravierende inhaltliche Fehler.4 Verschiedene Akteure, HistorikerInnen und Vereine haben sich zu den unterschiedlichen Entwürfen geäußert und es wurden mittlerweile zahlreiche Kritikpunkte in den städtischen Gedenktafelentwurf aufgenommen. Der gravierendste Kritikpunkt, die Passage vom „hastig einberufenen Standgericht“, soll voraussichtlich aber auf der „städtisch geprüften“ Gedenktafel bleiben.5
Diesen kleinen „Historikerstreit“ möchten wir als Gelegenheit nutzen, unsere aktuellen Forschungsergebnisse zum Burgholz Case zu präsentieren. Nach einem kurzen Überblick zum Forschungsstand und einer kurzen Geschichte des Burgholz-Gedenkens, rekonstruieren wir die Ereignisse des Frühjahrs 1945 und wenden uns dann der Strafverfolgung und insbesondere den beiden Burgholz-Prozessen in Hamburg zu. Dabei untersuchen wir die Verteidigungsstrategien der Burgholz-Täter und ihrer UnterstützerInnen und die Umstände ihrer Rückkehr in die Gesellschaft. Die Kontroverse um das „Standgericht“ werden wir in einem eigenen Kapitel bearbeiten.
Die Erfindung des Standgerichts – Strafvermeidung und Rechtfertigungsstrategien der NS-Täter
Zunächst zurück zur Debatte um die Gedenktafel im Burgholz. Dem städtischen Entwurf für die Gedenktafel zufolge soll ein „im Polizeipräsidium Wuppertal hastig einberufenes ‚Standgericht‘ die Unrechtsurteile gefällt“ haben.6 Dieser Behauptung möchten wir ausdrücklich widersprechen. Es gab nach umfangreicher Auswertung der Gerichtsunterlagen und weiterer Quellen kein Standgericht. Und daher gab es auch kein Gericht, das „Unrechtsurteile“ hätte fällen können. Auch gibt es keine Hinweise auf ein hastiges Vorgehen der Täter. Vielmehr entdeckten wir, dass sich NS-Täter in nachfolgenden Ermittlungs- und Gerichtsverfahren immer wieder erfolgreich auf angebliche Standgerichtsurteile bezogen, um nicht bestraft zu werden. Hinzu kommt, dass die Rechtfertigungsstrategien der Täter und ihrer Verteidiger auch Eingang in die wissenschaftliche Literatur und Erinnerungsarbeit gefunden haben und dass jetzt sogar die Behauptungen der Mörder auf einer Gedenktafel für die Opfer des Burgholz-Massakers Platz finden sollen. Letzteres zumindest möchten wir verhindern und werden daher unsere Argumente im Folgenden ausführlich erläutern:
In den Quellen gibt es faktisch keine Hinweise auf ein hastiges Vorgehen, im Gegenteil: Die Verhaftungen und die daraus resultierenden Ermittlungen begannen am 21. Januar 1945. Der Leiter des Exekutionskommandos, Karl Wilhelm Beine, sagte aus: „Etwa gegen Anfang Februar 1945 war ich bei einer Konferenz zwischen dem Kriminalrat Hufenstuhl und dem Polizeipräsidenten Krahne zugegen. Es wurde besprochen, wo man 30 Russen erschiessen könnte, und man einigte sich, dass der Schiesstand Burgholz ein geeigneter Platz sei.“7 Anfang Februar 1945 wurde der Gestapobeamte Waldorf vom Gestapoleiter Hufenstuhl mit dem Ausheben einer Grube für die Exekution beauftragt.8 Aus weiteren Zeugenaussagen wissen wir, dass Häftlinge aus dem Polizeigefängnis bereits Anfang Februar 1945 das Massengrab ausheben mussten.9 Die Täter hatten also genug Zeit zur Umsetzung ihres Vorhabens. Das Massaker fand erst vier bis sechs Wochen später statt.
Die Ermittlungen und Folterverhöre übernahm das für Einbruch und Diebstahl zuständige 2. Kommissariat der Kriminalpolizei. Nach Abschluss der kriminalpolizeilichen Ermittlungen wurde der „Vorgang“ – wie bei „Ausländersachen“ üblich – der Gestapo „zur weiteren Veranlassung“ übergeben. Über die daraus für die ausgewählten Häftlinge resultierenden Folgen konnte spätestens zu diesem Zeitpunkt wohl kein Zweifel mehr bestehen.
Für die Aburteilung ausländischer „Straftäter“ war seit 1942 in der Regel nicht mehr die deutsche Justiz zuständig, sondern die Gestapo.10 Der IdS Walter Albath beschrieb in einer Zeugenaussage die neuen Möglichkeiten: „Die Sonderbehandlung wurde mit dem Hineinströmen der großen Massen ausländischer Arbeiter im Jahre 1941 oder 1942 vom Reichssicherheitshauptamt eingeführt. Sie war nur beim Vorliegen besonderer Tatbestände möglich und mit dem Justizministerium vorher abgesprochen. Diese Tatbestände waren: Einbruch und Überfälle während der Verdunklungszeit, Plündern nach Luftangriffen, Sabotage an wichtigen Rüstungsmaschinen und Einrichtungen und bei sonstigen Gewaltverbrechen.“11 Das Vorgehen war klar geregelt. Exekutionen von „ausländischen Straftätern“ wurden als „Sonderbehandlung“ bezeichnet und wurden von den jeweiligen Gestapo(leit)stellen beim RSHA in Berlin beantragt. Dort mussten sie genehmigt werden. Die Hinrichtungen wurden in der Regel im Konzentrationslager oder Arbeitserziehungslager durchgeführt, aber auch „zur Abschreckung“ öffentlich vollzogen.12
In der letzten Kriegsphase wurden die Befehlsstrukturen des NS-Regimes erheblich dezentralisiert, weil man, bedingt durch die Kriegslage und eventuell gestörte Kommunikationsverbindungen, sicherstellen wollte, dass die „Heimatfront“ unter Kontrolle blieb. So änderten sich auch die konkreten Befehlswege im Westen. Überliefert und auch in den Burgholz-Prozessen als Beweisstück der Anklage präsentiert, ist ein Funkspruch des IdS Walter Albath vom 24. Januar 1945. In diesem Funkspruch wandte sich Albath an alle Gestapo(leit)stellen im Wehrkreis VI: „Die gegenwärtige Gesamtlage wird Elemente unter den ausländischen Arbeitern und auch ehemalige deutsche Kommunisten veranlassen, sich umstürzlerisch zu betätigen. Dass der Feind Vorbereitungen getroffen hat, geht aus einer Meldung des O.B. West hervor. Es ist in allen sich zeigenden Fällen sofort und brutal zuzuschlagen. Die Betreffenden sind zu vernichten, ohne im formellen Weg vorher beim RSHA Sonderbehandlung zu beantragen.“13 Zwei Tage später konkretisierte Albath das Prozedere: Die Sonderbehandlung könne bei der besonderen Lage im Wehrkreis VI auch ohne vorherige Genehmigung des Reichssicherheitshauptamtes durchgeführt werden. „Dort“, so Albath, „wo es sich um eine größere Anzahl handelt, wird nur zum Teil eine öffentliche Sonderbehandlung angebracht sein. Im Übrigen kann diese stillschweigend und auch durch Erschießen erfolgen. Von Anträgen an das Reichssicherheitshauptamt auf Sonderbehandlung […] ist zukünftig abzusehen.“14 So war der Gestapoleitstellenleiter Hans Henschke seit Ende Januar 1945 befugt, die Hinrichtungen der verhafteten ZwangsarbeiterInnen in eigener Verantwortung ohne Rücksprache mit dem RSHA anzuordnen und durch die lokale Gestapostelle im Burgholz durchführen zu lassen. Genau auf diese dezentralisierte Befehlslage und Verantwortlichkeit bezogen sich die Ankläger des britischen Militärgerichts.
Im Burgholz Case I wurden zunächst die Angehörigen des Exekutions- und Absperrkommandos wegen der Beteiligung an der Erschießung alliierter Staatsangehöriger angeklagt und verurteilt. Im Burgholz Case II, der am 28. August 1948 begann, wurden alle drei regionalen Befehlshaber, HSSPF Gutenberger, IdS Albath und Gestapoleitstellenleiter Henschke beschuldigt, „an der Herausgabe von Anweisungen“ an die Gestapo mitgewirkt zu haben, um „alliierte Staatsangehörigen ohne Gerichtsverfahren zu erschiessen.“15 Und sie wurden angeklagt an den Erschießungen von 30 bzw. 35 sowjetischen ZwangsarbeiterInnen, also alliierten Staatsangehörigen, im Burgholz – und am „Montagsloch“ in Essen – beteiligt gewesen zu sein.
Die ausländischen Opfer des Burgholz-Massakers, aber auch die ausländischen Opfer des Montagsloch-Massakers in Essen und vieler anderer Exekutionen im Wehrkreis VI, wurden Opfer des polizeilichen Sonderrechts der „Sonderbehandlung“. „Delinquente“ AusländerInnen sollten durch die Polizei „erledigt“ werden. „Sondergerichte“, „Standgerichte“ , besondere „Gremien“ oder „polizeiliche Standgerichte“ waren für diese von Albath ausgegebenen Vernichtungsbefehle weder vorgesehen noch notwendig. Die Alliierten waren trotz des Überraschungscoups an der Brücke von Remagen am 7. März 1945 und der alliierten Landungsoperation bei Wesel („Operation Varsity“) seit dem 23. März 1945 zum Tatzeitpunkt noch weit von Wuppertal und Essen entfernt. Der Ruhrkessel schloss sich erst am 1. April 1945.
Ein bisschen Rechtsstaat im NS-Staat?
Aus Tätersicht bzw. aus Sicht der Strafverteidiger der Angeklagten war die „Erfindung“ eines Standgerichts die einzige juristische Chance der Anklage zu entgehen. Wenn man beweisen könnte, dass die Hinrichtungen von einem Gericht nach ordentlichem Verfahren angeordnet worden wären, wäre eine Verurteilung wegen illegaler Hinrichtung abgewehrt. „Erfinder“ der Standgerichts-Behauptung war wohl ausgerechnet Walter Albath, der sogar persönlich die dezentrale Anwendung der „Sonderbehandlungen“ befohlen hatte. Albath war schon im Nürnberger Prozess als Zeuge aufgetreten und galt als Experte für die mitunter verwirrenden Befehlsstrukturen im Machtgeflecht zwischen HSSPF Gutenberger, ihm selbst in seiner Eigenschaft als IdS/KdS und dem Gestapoleitstellenleiter und späteren IdS Henschke.16
Bevor wir die Stellungnahmen der Angeklagten bewerten, sei noch in Erinnerung gerufen, auf welche Täterkarrieren diese SS-Führer zurückblickten. Diese Akteure waren allesamt in schwerste NS-Verbrechen verwickelt.17 An der Spitze der Befehlskette stand Karl Gutenberger, der als HSSPF die Hauptverantwortung für die Endphaseverbrechen im Wehrkreis VI trug.18 So teilte er am 12. Dezember 1944 Heinrich Himmler mit, dass man im westlichen Sperrgebiet „zur Stabilisierung der Kampfmoral 108 Deserteure bzw. spionageverdächtige Personen […] erschossen“ habe.19 Hans Henschke war Angehöriger des Sonderkommandos 1b der Einsatzgruppe A. Seit seiner Versetzung nach Kiel am 8. September 1941 war er als Leiter der Gestapostelle Kiel u. a. für die Deportation der Juden verantwortlich. Ab Oktober 1943 amtierte er als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (KdS) in Paris. Seit Oktober 1944 war er Leiter der Gestapoleitstelle Düsseldorf.20 Walter Albath war u. a. Befehlshaber des Einsatzkommandos 3 der Einsatzgruppe V in Polen. Von Ende 1941 bis Mitte 1943 fungierte er als Leiter der Gestapoleitstelle Düsseldorf und organisierte u. a. die Deportation eines Großteils der Juden aus dem Rheinland.
Interessant ist, dass vor allem die Aussagen von Henschke und Albath die Sichtweise auf die Endphaseverbrechen bis heute bestimmen. Die Erzählung vom „polizeilichen Standgericht“ wurde sogar ungeprüft in der wissenschaftlichen Literatur aufgegriffen.21
Am schwerwiegendsten waren die Folgen für die Bemühungen, NS-Täter vor Gericht zu bringen. So übernahm die Essener Staatsanwaltschaft 1960 im Zusammenhang mit den Ermittlungen zum Montagsloch-Massaker kritiklos Albaths Geschichten von der quasi rechtsstaatlichen Version der „Sonderbehandlungen“: „In den ersten Februartagen 1945 erging an alle Gestapo-Leitstellen ein weiterer Erlass des RSHA, unterzeichnet vom Chef des RSHA Kaltenbrunner. Mit diesem Erlass wurden die Befugnisse des RSHA hinsichtlich der Sonderbehandlung allgemein (nicht nur wie vorher im Wehrkreis VI) auf die Leiter der Gestapo-Leitstellen (Kommandeure der Sicherheitspolizei) übertragen. Bereits vorher, bei einer Dienstbesprechung der Gestapoleiter mit Dr. Albath, waren die Teilnehmer an dieser Besprechung dahin übereingekommen, dass entsprechend dem Wunsche des […] Gutenberger die Entscheidung über die Sonderbehandlung nicht von dem Gestapoleiter allein, sondern von diesem zusammen mit seinem Vertreter und dem zuständigen leitenden Kriminalbeamten getroffen werden solle.“22
Walter Albath schilderte noch vor den Burgholz-Prozessen, wie „die Sonderbehandlung […] nach Herauskommen […] [seines] Befehls […] gehandhabt worden“ sei: „Die Angeklagten wurden von Kriminalbeamten vernommen und ebenfalls Zeugen. Die abgeschlossenen schriftlichen Vernehmungen wurden dann dem Gestapoleitstellenleiter zur Entscheidung vorgelegt. Er beriet, im allgemeinen mit seinem Stellvertreter und dem Abteilungsleiter IV (Exekutive) in der Abwesenheit der Angeklagten, und fällte das Urteil. Zur Kenntnisnahme wurde mir und dem RSHA kurz über den Fall berichtet, aber die Entscheidung des Gestapoleiters brauchte keine Bestätigung. […] Ich halte es für erwünschter, dass Angeklagte vor einem ordentlichen Gericht angeklagt würden, aber, da alle meine Gestapoleiter Juristen waren, hielt ich die Änderung für nicht gefährlich, zumal im RSHA, meines Wissens, die Entscheidungen nicht von einem Juristen gefällt wurden.“23
Letztlich schien für Albath die „rechtsstaatliche Qualität“ bei den juristisch ausgebildeten leitenden Gestapo-Beamten in Düsseldorf sogar höher zu sein als beim RSHA in Berlin.
Auch Hans Henschke bevorzugte angeblich ein ordentliches Sondergerichts-Verfahren für die in Wuppertal verhafteten „Ostarbeiter“: „Es war mir auf Grund der Befehle meines Vorgesetzten, Gruppenführer [Heinrich] Müller, [aber] nicht möglich die Gefangenen vor ein Gericht außerhalb der Polizei zu bringen. Ich konnte [aber] […] die Gefangenen, die diese schweren todeswürdigen Verbrechen begangen hatten, nicht ungestraft davon gehen lassen.“24 Diese angeblichen Gewissensnöte und rechtsstaatlichen Prinzipien der Spitze des regionalen NS-Verfolgungsapparats wurden von dem britischen Militärgericht übrigens nicht goutiert.
Bevor wir uns den Burgholz-Prozessen und seiner Beweisführung in Sachen „Standgericht“ genauer widmen, sei hier noch auf das Verfahren gegen die Düsseldorfer Kriminalbeamten Victor Harnischfeger und Josef Ochs hingewiesen, der kurz vor dem 1. Burgholz-Prozess mit zwei Freisprüchen geendet war. Die beiden promovierten Kriminalbeamten waren wegen der Erschießung von niederländischen und sowjetischen ZwangsarbeiterInnen am 6. April 1945 im sogenannten Kalkumer Wald in der Nähe von Düsseldorf angeklagt.
Bemerkenswert ist das Aussageverhalten von Victor Harnischfeger. Entgegen seiner früheren Aussage, in der er noch angab, die Tötung der ZwangsarbeiterInnen sei aufgrund eines Befehls zur „Sonderbehandlung“ erfolgt, hatte Harnischfeger und sein Verteidiger, wie Walter Albath im Juni 1947, das „Standgericht“ als entlastenden Umstand für sich entdeckt: Mit Bezug auf die verschiedenen Tötungsdelikte, die ihm zur Last gelegt wurden, behauptete er, dass „die entsprechenden Urteile“ seiner „Überzeugung nach von einem Standgericht unter Vorsitz Albaths oder des damaligen Stapoleiters Henschke ausgesprochen worden [seien]. Wie sich ein Standgericht zusammensetzte, haben wir in Düsseldorf nicht erfahren. Wir haben auch keine zu sehen bekommen. Das Verlangen, ein solches Urteil gezeigt zu bekommen, wäre als erhebliches Delikt des Ungehorsams ausgelegt worden […].“25 Die Angeklagten wurden letztlich in diesem Verfahren freigesprochen, aber nicht weil das Gericht der Verurteilung durch ein Standgericht Glauben schenkte, sondern weil, wie Heike Sack formulierte, „sich ihre Täterschaft in der ‚pfuscherhaft‘ verlaufenen Exekution nicht eindeutig klären ließ.“26
„Gremium von vier oder fünf Herren“
Stellvertretend für die Verteidigungsstrategien im ersten Burgholz-Prozess sei hier auszugsweise das Plädoyer des Verteidigers der Angeklagten Wilhelm Ober und Kurt Engemann, Rechtsanwalt Heisinger, zitiert: „Ich möchte mich zunächst mit der Frage der Gesetzwidrigkeit der Tötung beschäftigen, weil hiermit die Anklage steht und fällt. Die Verteidigung befindet sich bezüglich dieses Punktes in einem offensichtlichen Beweisnotstand. Sie hat sich bemüht, den Nachweis zu führen, dass es sich um eine gesetzmäßige Hinrichtung gehandelt hat. Dies würde voraussetzen, dass die getöteten Russen in einem ordnungsgemäßen gerichtlichen Verfahren zum Tode verurteilt wurden. Den Beweis hierfür zu erbringen ist deswegen so schwierig, weil die Hauptbeteiligten tot und die Akten infolge der Vorgänge beim Zusammenbruch unauffindbar, höchstwahrscheinlich vernichtet sind. Die Beweisaufnahme hat aber soviel ergeben, dass die Russen in einem Zimmer im dritten Stock des Wuppertaler Polizeipräsidiums einem Gremium von vier oder fünf Herren vorgeführt und eingehend vernommen wurden. Den Russen wurde vorgeworfen, an einer grossen Anzahl von Gewaltverbrechen in und um Wuppertal beteiligt gewesen zu sein. Einige der Angeklagten wurden für nicht schuldig befunden. Der Angeklagte Pohlmann, der selbst [die Häftlinge] mit vorgeführt hat, bekundet als Zeuge, die Verhandlung habe zwei volle Tage gedauert. Sie fand im Dienstzimmer des Chefs der Wuppertaler Gestapo, Kriminalrat Hufenstuhl, statt. Ein zwingender Schluss auf die Zusammensetzung des Gremiums, das die Vernehmung durchführte, lässt sich aber aus dieser Tatsache nicht ziehen.“27 Da das Wuppertaler Polizeipräsidium vom Bombenkrieg fast unbeschädigt blieb und sich daher „sehr viele Dienststellen des Staates und der Armee, vor allem aus den bereits geräumten Gebieten, in dieses Gebäude verlegt“ wurden, bestehe „durchaus die Möglichkeit, dass es sich um ein ordentliches Gericht gehandelt hat, das lediglich zufällig gerade in diesem Raum [bei Gestapo-Chef Hufenstuhl] seine Sitzungen abhielt. Über die personelle Zusammensetzung des Gremiums […] hat die Beweisaufnahme kein klares Bild ergeben. Der Angeklagte Peters hat allerdings ausgesagt, der Chef der Düsseldorfer Gestapo Henschke, sein Stellvertreter Keil und die anderen leitenden Düsseldorfer Gestapobeamten, die er kenne, seien bei der Verhandlung nicht zugegen gewesen. Daraus dürfte sich auf jeden Fall ergeben“, so die überraschende Schlussfolgerung des Verteidigers, „dass es sich nicht um eine ‚Sonderbehandlung‘ auf Grund des von dem Inspekteur der Sicherheitspolizei und SD im Wehrkreis VI, Dr. Albath, unterzeichneten Erlasses vom 26. Januar 1945 gehandelt hat. Denn für die Durchführung eines solchen Verfahrens wäre nur Henschke oder allenfalls sein Stellvertreter zuständig gewesen.“28 Diese Stellungnahme des Verteidigers macht deutlich, dass die Beweise für eine „gesetzmäßige Hinrichtung“ und für ein „ordnungsgemäßes gerichtliches Verfahren“ im Burgholz-Fall offensichtlich nicht ausreichend waren. Das sah das britische Militärgericht ebenso und verurteilte die Wuppertaler Kripo- und Gestapobeamten zu vergleichsweise harten Strafen, darunter sechs Todesstrafen. Es machte damit deutlich, dass es von der Existenz eines „Standgerichts“ oder eines gerichtsähnlichen „Gremiums“ nicht überzeugt war.
Das „polizeiliche Standgericht“
Im zweiten Burgholz-Prozess gegen die Haupttäter wurden die „Beweise“ für die Existenz eines „Standgerichts“ noch einmal präzisiert. Im Mittelpunkt standen diesmal die Umstände des „Montagsloch“-Massakers in Essen. Dort hatten Mitte März 1945 Essener Gestapo- und Kripobeamte an zwei Tagen nacheinander 35 „Ostarbeiter“ wegen angeblichen Plünderns an einem Bombenkrater im Gruga-Park erschossen. Auch in diesem Fall folgte das Gericht nicht der „These“ vom „Standgericht“. Albath, Henschke und Gutenberger wurden auch wegen dieses Anklagepunktes schuldig gesprochen. Das Strafmaß für die Hauptverantwortlichen der Massaker war mit 15 Jahren Haft für Walter Albath und jeweils 12 Jahren Haft für Hans Henschke und Karl Gutenberger aber – im Vergleich zum Burgholz Case I – vergleichsweise milde ausgefallen.
Zehn Jahre später, 1958, kam es endlich auch zu einem Ermittlungsverfahren der deutschen Justiz gegen die lokalen Täter des „Montagloch“-Massakers. Ermittelt wurde gegen die Angehörigen und Organisatoren des Exekutionskommandos, wobei der Gestapochef Nohles, der Gestapo-Beamte Paschen (der angeblich die Genickschüsse gesetzt hatte), der Polizeipräsident Henze und der Gestapobeamte Hans Giesen schon verstorben waren. Das Ermittlungsverfahren wurde 1960 vom Essener Oberstaatsanwalt mit bemerkenswerten Einschätzungen und rechtlichen Würdigungen eingestellt. Auffällig ist der Umstand, dass das Verteidigungskonstrukt der Haupttäter, die Erfindung des „Standgerichts“ nicht hinterfragt wurde.
Die Vorgeschichte der Ermordung der wegen Plünderung verdächtigen ZwangsarbeiterInnen wurde von dem Essener Oberstaatsanwalt so dargestellt: „Auf Grund einer Besprechung zwischen Henschke, seinem Vertreter Dr. Keil und Nohles konstituierten sich diese als ‚polizeiliches Standgericht‘ um die schwerer Verbrechen beschuldigten Ostarbeiter ‚abzuurteilen‘. Da unter den damaligen Verhältnissen, insbesondere wegen des fast ständigen Fliegeralarms, eine Tagung des ‚Gerichts‘ in Essen nicht möglich war, da andererseits die 38 in Frage kommenden Ostarbeiter, insbesondere auch wegen der mangelnden Unterbringungsmöglichkeiten in Ratingen, nicht zum Sitz der Gestapoleitstelle transportiert werden konnten, gab man [dem Essener Gestapo-Chef] Nohles, ‚gewissermaßen als beauftragten Richter‘, wie Henschke angibt, die Weisung, die 38 Ostarbeiter nochmals persönlich kurz zu hören, ihre Erklärungen zu Protokoll zu nehmen und ihnen zu eröffnen, dass über sie Gericht gehalten werde. Nohles führte diesen Auftrag aus. Nach seiner Rückkehr nach Ratingen prüften Henschke, Dr. Keil und Nohles erneut in einer angeblich mehrere Stunden dauernden Sitzung die einzelnen Fälle anhand der Akten durch und ‚verurteilten‘ 35 der Beschuldigten zum Tode, ‚sprachen‘ zwei der Beschuldigten „frei“ und ordneten hinsichtlich eines Ostarbeiters noch weitere Ermittlungen an. Das ‚Urteil‘ wurde protokolliert und von Henschke bestätigt. Die beiden ‚Freigesprochenen‘ wurden entlassen […] Mit der Vollstreckung der ‚Todesurteile‘ wurde Nohles beauftragt. Er wurde von Henschke auf den ergangenen Erlaß des RSHA über die Durchführung von Exekutionen hingewiesen.“29
Auch zum Massaker im Burgholz hat der Essener Oberstaatsanwalt, zwölf Jahre nach den Urteilen in Hamburg, eine eindeutige Einschätzung: Henschke habe „etwa Mitte März 1945 ein weiteres Mal, und zwar diesmal durch eine Kommission von Gestapo und Polizeioffizieren, an der er selbst nicht teilnahm, 30 Ostarbeiter aus dem Raum Wuppertal, die – wie in Essen – Verbrechen begangen haben sollten, in gleicher Weise auf Grund der Vorschriften über die ‚Sonderbehandlung‘ zum Tode verurteilen lassen, hat das ‚Urteil‘ bestätigt und die Ostarbeiter erschießen lassen.“30
Die Akzeptanz der Täterbehauptungen ging sogar soweit, dass der Oberstaatsanwalt der Essener Gestapo attestierte, im Grugapark zwei mustergültige und rechtlich einwandfreie Exekutionen durchgeführt zu haben. Der Essener Gestapo-Chef Nohles soll am „Montagsloch“ zunächst den Beamten bekannt geben haben, dass es sich um eine Exekution von „Plünderern, Räubern, Mördern und Bandenmitgliedern“ handelte, die durch das Standgericht verurteilt worden seien.31 „Der Dolmetscher soll jedem einzelnen der Gefangenen noch einmal die Gründe der Erschießung genannt und ihn aufgefordert haben, etwaige Einwendungen zu erheben. Keiner der Gefangenen soll jedoch etwas erwidert haben. Dann wurde jeder einzelne von dem von Nohles als Schützen eingeteilten Gestapo-Beamten Paschen durch Pistolenschuss in den Hinterkopf getötet. Der Tod trat in allen Fällen sofort ein.“32
Im weiteren Teil der Verfügung des Oberstaatsanwalts geht es um eine rechtliche Würdigung. Die Hinrichtungen am „Montagsloch“ seien kein Mord, sondern als Totschlag zu werten. Immerhin kam der Oberstaatsanwalt zu der Einschätzung, dass es sich um eine rechtswidrige Tötungen gehandelt habe, weil das „Gremium“ kein „Organ der Rechtspflege“ gewesen sei. Gleichzeitig akzeptierte er die Existenz des „Gremiums“ als Teil der „bestehenden Vorschriften über die Sonderbehandlung“ und lobte sogar die Hauptverantwortlichen Albath, Gutenberger und Henschke, dass sie in schwierigen Zeiten gerichtsähnliche Verfahren angewandt hätten.33
„Die damals bestehenden Vorschriften über die Sonderbehandlung konnten die Tötung der Ostarbeiter keineswegs rechtfertigen. Niemand, der nicht vom Gesetzgeber dazu berufen ist, hat das Recht, Justiz zu üben und einen Menschen zu töten. Auch der schlimmste Verbrecher hat einen unbedingten Anspruch darauf, dass das zuständige und unabhängige Gericht über sein Schicksal befindet. Im vorliegenden Fall lag ein Urteil eines solchen unabhängigen Gerichts nicht vor. Das aus dem Leiter der Gestapoleitstelle (Henschke, seinem Vertreter Dr. Keil und dem Leiter der Gestapoaußenstelle in Essen (Nohles) bestehende Gremium, dass die Tötung der Ostarbeiter beschlossen hat, kann für sich diese Eigenschaft nicht in Anspruch nehmen, auch wenn es nach Art eines Gerichtes den Sachverhalt geprüft und danach die Entscheidung getroffen hat. Es handelt sich bei diesem nur zu diesem besonderen Zweck gebildeten Gremium, nicht um ein Organ der Rechtspflege, das von Weisungen unabhängig und allgemein für die Aburteilung von Rechtsbrechern, wie es die Ostarbeiter gewesen sind, zuständig war. Die Entscheidung dieses Gremiums wird auch nicht durch die Erlasse über die Sonderbehandlung gedeckt. Denn diese Erlasse waren selbst rechtswidrig und unwirksam.“34
Der Ablauf der Hinrichtungen war demzufolge rechtlich einwandfrei. Niedrige Beweggründe waren keinem der Täter nachzuweisen. Anders als im Burgholz Case, das nach britischem Militärrecht alle Beteiligten der illegalen Hinrichtung bestrafen konnte, konnten „die Beschuldigten […] eine Reihe von Milderungsgründen für sich in Anspruch nehmen. Es sind dies vor allem die damaligen Zeitverhältnisse. Insbesondere das drohende Chaos und das Gefühl, dies abwenden zu müssen, lassen die Taten der Beschuldigten in einem milderen Licht erscheinen. Hinzu kommt, dass die Ostarbeiter wegen ihrer schweren Straftaten unter den damaligen Verhältnissen auch in einem ordnungsmäßigen Gerichtsverfahren mit dem Tode bestraft worden wären. […] Letztlich spricht auch zu Gunsten dieser Beschuldigten ihr Bestreben, eine möglichst eingehende und gerichtsähnliche Prüfung der Straftaten sicherzustellen und zu verhindern, dass die Sonderbehandlung zu offensichtlichen Willkürmaßnahmen führte. Ein öffentliches Interesse, die bereits abgeurteilten Taten 15 Jahre nach der Tat erneut zum Gegenstand eines Strafverfahrens zu machen, besteht nicht. Dies gilt vor allem bei Henschke und Dr. Albath, die auf Grund der Empfehlung des gemischten Deutsch-Alliierten-Gnadenausschusses vorzeitig aus der Haft entlassen worden sind und bei denen danach die verbüßten Strafen bereits als gerechte Sühne angesehen worden sind.“35
Dann nimmt er Bezug auf das Straffreiheitsgesetz von 1954: „Selbst wenn sich aber die Beschuldigten, die dem Erschießungskommando angehört haben, der Beihilfe zum Totschlag schuldig gemacht haben sollten, würde bei ihnen § 6 Anwendung finden müssen. Denn ihre Taten sind – kurz vor dem Einmarsch der alliierten Truppen – unter dem Einfluss der außergewöhnlichen Verhältnisse des Zusammenbruchs auf Grund eines Befehls der Vorgesetzten begangen worden. Es war allen Beschuldigten bei Berücksichtigung ihrer untergeordneten Stellung und ihrer Einsichtsfähigkeit nicht zuzumuten, sich dem Befehl zu widersetzen und die Taten zu unterlassen. Bei keinem von ihnen wäre eine höhere Strafe als 3 Jahre Gefängnis zu erwarten.“36
Im Verlaufe der eingehenden Ermittlungen habe sich herausgestellt, dass „ein Teil der an den fraglichen Erschießungen Beteiligten inzwischen verstorben ist und dass die Haupttäter bereits im Jahre 1948 durch ein Militärgericht abgeurteilt worden sind. Der Verfolgung der außerdem ermittelten Angehörigen des Exekutionskommandos stehen rechtliche Gründe entgegen. Bei diesen Beschuldigten handelt es sich um Beamte in untergeordneten Stellungen, die zur Tatzeit den Vorschriften des Militärstrafrechts unterstanden. Sie haben sich unwiderleglich dahin eingelassen, an die Rechtmäßigkeit der Erschießungen geglaubt zu haben. Sie können daher gem. § 47 des Militärstrafgesetzbuches für die Ausführung des Ihnen erteilten Erschießungsbefehls nicht verantwortlich gemacht werden. […] Bei dieser Entscheidung war zu Gunsten der Beschuldigten zu berücksichtigen, dass die erschossenen Fremdarbeiter nach den getroffenen Feststellungen sich schwerster Verbrechen (Mord, Raub, Plünderungen usw.) schuldig gemacht haben. Ich habe daher das Verfahren eingestellt.“37
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