Landrecht bricht Bundesrecht, Teil III

Heute: Barrierefrei? Aber nicht doch, mein Herr.

Rillenpflaster entlang der Konsumbrücke am Hauptbahnhof mit quer darüber verlegtem Kabelkanal.

Jahrzehntelang mußten sich körperlich Behinderte im Straßenverkehr mit Treppen, hohen Bordsteinen und anderen Hindernissen im Straßenverkehr abfinden, die ihnen eine weitgehend normale Teilnahme am Verkehr unmöglich machte. Aus diesem Grunde verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) in New York 2006 das Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-Behindertenrechtskonvention, UN-BRK), die 2008 inkrafttrat (Deutschland: BGBl. 2008 II S. 1419, 1420 [1]). „Sie steht im Rang einfachen Bundesrechts; sie kann und muss zur Auslegung und Anwendung des deutschen Rechts herangezogen werden.“ [2] Artikel 7 definiert die Zugänglichkeit [7], Artikel 20 das Recht auf persönliche Mobilität. [8].

Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) des Bundes definiert Barrierefreiheit in § 4 wie folgt:

Barrierefrei sind bauliche und sonstige Anlagen, Verkehrsmittel, technische Gebrauchsgegenstände, Systeme der Informationsverarbeitung, akustische und visuelle Informationsquellen und Kommunikationseinrichtungen sowie andere gestaltete Lebensbereiche, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind. Hierbei ist die Nutzung behinderungsbedingt notwendiger Hilfsmittel zulässig.

Rillenpflaster entlang der Herzogstraße mit quer darüber verlegtem Kabelkanal zum Darüberfallen.

Das Behindertengleichstellungsgesetz in Nordrhein-Westfalen [3] sieht die barrierefreie Gestaltung von baulichen Anlagen, öffentlichen Wegen, Plätzen, Straßen sowie öffentlich zugängliche Verkehrsanlagen und Beförderungsmittel sowie sonstige Anlagen in § 7 vor. Die Träger öffentlicher Belange dürfen Menschen nicht unterschiedlich behandeln, ohne daß hierfür ein zwingender Grund vorliegt (Diskriminierungsverbot, § 2). Für die Anwendung gibt es für viele Bereiche des täglichen Lebens Leitlinien (hier: Verkehr). [13] [14] [15]

§ 8 Absatz 3 Satz 3 des Personenbeförderungsgesetzes schreibt seit dem 1. Januar 2013 den barrierefreien Umbau der Haltestellen im öffentlichen Personenverkehr bis zum 1. Januar 2022 vor. [4] In Wuppertal stellt man als Behörde einfach anschließend fest, daß der Umbau er Haltestellen mehrere hundert Jahre dauern könnte [5] und stiehlt sich so mit einer flapsigen Bemerkung aus der Verantwortung.

Barrierefreiheit in der Praxis: Taktile Elemente freihalten – nein, danke.

Halteverbote in der Fußgängerzone, die es lt. selbiger anordnender Behörde gar nicht gegen dürfen.

Wenn es um die Anordnung von Halteverboten in der Fußgängerzone zwecks Freihaltung taktiler Elemente (Rillen- und Noppenpflaster für Blinde) geht, kann selbstverfreilich kein Haltverbot (Zeichen 283 StVO) angeordnet werden. [6] In allen anderen – von 104 gewünschten – Fällen ist das natürlich möglich, vgl. Foto oben von der Fußgängerzone Ecke Post-/Schwanenstraße.

Barrierefreiheit in der Praxis: barrierefreie Kabelrampen bei Veranstaltungen? Nein, danke.

Irgendwie am Von-der-Heydt-Platz verlegter Kabelschrott als Stolperfalle.

Aufgrund der eingangs erwähnten Rechtsgrundlage hat die Straßenverkehrsbehörde die gleichberechtigte Teilnahme von Menschen mit Behinderungen bei der Erteilung von Sondernutzungserlaubnissen zu Jahr-, Weihnachtsmärkten, Volksfesten etc. pp. mit entsprechenden Auflagen und Bedingungen zu berücksichtigen. Statt sich mit dem Thema ernsthaft zu beschäftigen, druckst die Verwaltung mit barrierefreier Verlegung von Kabeln und Schläuchen auf der Stelle und findet dies „nicht zielführend“ [6].

Seit Jahren gibt es zu den in Wuppertal eher lose als geplant verlegte Kabelkanälen barrierefreie Rampen, die man als zu den Auflagen und Bedingungen einer Sondernutzungserlaubnis vorgeben kann. Diese sind auch nicht unzumutbar für den Veranstalter, so daß eine Behörde selbst auf die Rampen kommen könnte.

Barrierefreiheit: nur in der Theorie

Auf Behelfsgehweg abgestürzte Absturzsicherungen. Diese sollen eigentlich das Abstürzen von Personen in die Baugrube verhindern.

Die Belange Behinderter werden allenfalls förmlich – auf dem Papier – erfüllt. Auf Baustellen herrscht das blanke Chaos, vgl. Bild oben, so daß diese quasi zur behindertenfreien Zone werden. Wer ernsthaft an der eigenen Gesundheit hängt, meidet diese Bereiche. Kontrollen finden so gut wie nicht statt.

In irgendeiner Genehmigung oder einem Bauplan steht, daß die gesetzlichen Anforderungen zu erfüllen sind [10]. Damit hat die anordnende oder genehmigende Behörde ihren gesetzlichen Teil getan und ist aus der Haftung raus (vgl. OLG-Fall in Bremen in [2]). Auch die Anregungen mit der Warnung auf das aktuell bestehende Abstellchaos bei den Verleihscootern kann man so mit einem Satz beiseitewischen. [11] Daß die Genehmigungen widersprüchlich und nicht alle von der Politik vorgegebenen Bedingungen beinhalten, wurde an anderer Stelle bereits ausführlich diskutiert. [12]

Das hat auch schon mit dem „Sicherheitskonzept“ der Schwebebahn 1997/8 funktioniert, das laut Vorsitzendem Richter „das Papier nicht wert ist, auf dem es steht“. Die Einhaltung dessen Vorgaben hat auch niemand kontrolliert, aber es war ja von der Aufsichtsbehörde genehmigt, Eigentlich war danach vorgesehen, daß drei Personen die Baustelle nacheinander prüfen. Leider hatte man „vergessen“ vorzuschreiben, daß Nr. 2 erst mit seiner Kontrolle beginnen darf, wenn Nr. 1 unterschrieben hatte. Und so machten alle drei die Kontrollen zusammen, keiner richtig, und die Herren der Chefetage brauchten sich strafrechtlich nichts vorwerfen zu lassen.

Quellen und weiterführende Verweise:

[1] UN-Behindertenrechtskonvention
https://www.bgbl.de/xaver/bgbl/start.xav?startbk=Bundesanzeiger_BGBl&jumpTo=bgbl208s1419.pdf#page=2

[2] vgl. Ruland/Becker/Axer, Sozialrechtshandbuch (SRH), § 27 Recht der Rehabilitation und Teilhabe Rn. 20, beck-online; OLG Bremen, Urteil vom 15. November 2023, 1 U 15/23,
https://dejure.org/dienste/vernetzung/rechtsprechung?Text=1%2520U%252015%2F23&Suche=OLG%20Bremen%2C%20Urteil%20vom%2015.%20November%202023%2C%201%20U%2015%2F23

[3] Gesetz des Landes Nordrhein-Westfalen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung (Behindertengleichstellungsgesetz Nordrhein-Westfalen – BGG NRW),
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_text_anzeigen?v_id=5420140509100636414

[4] § 8 – Personenbeförderungsgesetz (PBefG)
https://www.buzer.de/8_PBefG.htm

[5] „Jan Böhmermann macht sich über Wuppertal lustig“, WZ vom 16.04.23
https://www.wz.de/-88630021

[6] VO/1693/23 vom 30.01.2023,
https://ris.wuppertal.de/getfile.asp?id=310926&type=do

[7] Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen:

Artikel 9 – Zugänglichkeit

  1. Um Menschen mit Behinderungen eine unabhängige Lebensführung und die volle Teilhabe in allen Lebensbereichen zu ermöglichen, treffen die Vertragsstaaten geeignete Maßnahmen mit dem Ziel, für Menschen mit Behinderungen den gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt, zu Transportmitteln, Information und Kommunikation, einschließlich Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, sowie zu anderen Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit in städtischen und ländlichen Gebieten offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, zu gewährleisten. Diese Maßnahmen, welche die Feststellung und Beseitigung von Zugangshindernissen und -barrieren einschließen, gelten unter anderem für
    1. Gebäude, Straßen, Transportmittel sowie andere Einrichtungen in Gebäuden und im Freien, einschließlich Schulen, Wohnhäusern, medizinischer Einrichtungen und Arbeitsstätten;
    2. Informations-, Kommunikations- und andere Dienste, einschließlich elektronischer Dienste und Notdienste.
  2. Die Vertragsstaaten treffen außerdem geeignete Maßnahmen,
    1. um Mindeststandards und Leitlinien für die Zugänglichkeit von Einrichtungen und Diensten, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, auszuarbeiten und zu erlassen und ihre Anwendung zu überwachen;
    2. um sicherzustellen, dass private Rechtsträger, die Einrichtungen und Dienste, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, anbieten, alle Aspekte der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen berücksichtigen;
    3. um betroffenen Kreisen Schulungen zu Fragen der Zugänglichkeit für Menschen mit Behinderungen anzubieten;
    4. um in Gebäuden und anderen Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offenstehen, Beschilderungen in Brailleschrift und in leicht lesbarer und verständlicher Form anzubringen;
    5. um menschliche und tierische Hilfe sowie Mittelspersonen, unter anderem Personen zum Führen und Vorlesen sowie professionelle Gebärdensprachdolmetscher und -dolmetscherinnen, zur Verfügung zu stellen mit dem Ziel, den Zugang zu Gebäuden und anderen Einrichtungen, die der Öffentlichkeit offenstehen, zu erleichtern;
    6. um andere geeignete Formen der Hilfe und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen zu fördern, damit ihr Zugang zu Informationen gewährleistet wird;
    7. um den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu den neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und -systemen, einschließlich des Internets, zu fördern;
    8. um die Gestaltung, die Entwicklung, die Herstellung und den Vertrieb zugänglicher Informations- und Kommunikationstechnologien und -systeme in einem frühen Stadium zu fördern, sodass deren Zugänglichkeit mit möglichst geringem Kostenaufwand erreicht wird.

[8] Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen:

Artikel 20 – Persönliche Mobilität

Die Vertragsstaaten treffen wirksame Maßnahmen, um für Menschen mit Behinderungen persönliche Mobilität mit größtmöglicher Unabhängigkeit sicherzustellen, indem sie unter anderem

  1. die persönliche Mobilität von Menschen mit Behinderungen in der Art und Weise und zum Zeitpunkt ihrer Wahl und zu erschwinglichen Kosten erleichtern;
  2. den Zugang von Menschen mit Behinderungen zu hochwertigen Mobilitätshilfen, Geräten, unterstützenden Technologien und menschlicher und tierischer Hilfe sowie Mittelspersonen erleichtern, auch durch deren Bereitstellung zu erschwinglichen Kosten;
  3. Menschen mit Behinderungen und Fachkräften, die mit Menschen mit Behinderungen arbeiten, Schulungen in Mobilitätsfertigkeiten anbieten;
  4. Hersteller von Mobilitätshilfen, Geräten und unterstützenden Technologien ermutigen, alle Aspekte der Mobilität für Menschen mit Behinderungen zu berücksichtigen.

[10] Wie die Vorgaben für Baustellensicherungen in der Theorie und Praxis aussehen:
http://rsa-online.com/22/Absperrschrankengitter/Absperrschrankengitter.htm

[11] VO0675/22: Berücksichtigung der Belange Blinder und Sehschwache in den vertraglichen Bedingungen mit E-Scootern,
https://ris.wuppertal.de/vo0050.asp?__kvonr=27417

[12] Njuuz:

E-Scooter Verleih in Wuppertal: Chaos ist vorprogrammiert

Auf den „Lime“ gegangen

Zwischenfazit Lime-E-Scooter-Verleih: Mit Zitronen gehandelt

[13] „Leitfaden 2012: Barrierefreiheit im Straßenraum“ von Straßen.NRW
https://www.neuss.de/leben/stadtplanung/verkehrsplanung/vergabe-oeffentlicher-dienstleistungsauftraege-nach-vo-eg-1370-2007/5-2/Anlage%206d_Leitfaden%20barrierefreiheit_im_Strassenraum%20-LBS.pdf

[14] „Leitfaden für die barrierefreie Gestaltung von Verkehrsflächen“, Landesbetrieb Mobilität Rheinland-Pfalz, 2020, mit Anlagen,
https://lbm.rlp.de/themen/strassenplanung/barrierefreie

[15] Leitfaden zur Barrierefreiheit – Bauen für alle im Verkehrs- und Freiraum unter Berücksichtigung der DIN 18040-3, 2021,
https://www.ab-nrw.de/publikationen.html

Weiterführende Websits:
https://www.ab-nrw.de
http://www.unbehindertmobil.de/

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Kommentare

  1. Walter Thomann sagt:

    Darüber muss mann/frau in Wuppertal nicht schreiben, eigentlich sich nur schämen, wenn er/sie Bürger/in dieser Stadt ist und Gäste kennenlernt …

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