Persönliche Erklärung zur namentlichen Abstimmung zum Familiennachzug

Zur gestrigen Abstimmung über die Verlängerung der Aussetzung des Familiennachzugs erklärt der Bundestagsabgeordnete Helge Lindh:

„Am kommenden Sonntag werde ich in Wuppertal wieder die Familie besuchen, über die ich in meiner ersten Plenarrede am 18. Januar 2018 anlässlich eines Gesetzesentwurfes der AfD-Fraktion zur Novellierung des Aufenthaltsrechts berichtet habe. Diese Familie ist unmittelbar von der gegenwärtigen Aussetzung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten betroffen. Ein minderjähriges Kind dieser Familie wartet seit Jahren darauf, mit seiner Familie, insbesondere der Mutter, wiedervereint zu werden. Der Vater ist in Syrien verstorben.

Am kommenden Montag werde ich mit dieser Familie einen Anwalt aufsuchen, der infolge der oben genannten Bundestagsdebatte auf den Fall aufmerksam wurde und hilfreich zur Seite zu stehen trachtet. Der Mutter und ihren Angehörigen gegenüber werde ich erklären und zu erklären haben, dass ihre Hoffnung auf eine grundsätzliche Gewährung der Familienzusammenführung und ein Ende der Aussetzung ab dem 17. März nicht Erfüllung finden wird.

Ebenso werde ich ihnen als unmittelbar Betroffenen zu erklären haben, dass ich eine Entscheidung mittrage, die in Form einer Übergangsregelung die Aussetzung des Nachzugs bis längstens zum 31. Juli verlängert und einer Neuregelung ab dem 01. August mit einem monatlichen Kontingent von 1000 Personen zuzüglich der Geltung der Härtefallregelung über die § 22 und 23 den Weg bahnt. Die Verlängerung der Aussetzung ist, was ich für unverzichtbar erachte, befristet. In der Zeit muss äußerst sorgfältig eine unter diesen Rahmenbedingungen bestmögliche und auch in der Praxis der Auslandsvertretungen umsetzbare Neuregelung erarbeitet werden, eine Neuregelung, deren Anwendung über nicht weniger als das Schicksal und die Zukunft bisher getrennter Familien entscheidet.
Diese bevorstehende Gesetzesnovelle wird im Innenausschuss, dem ich angehöre, ausführlich zu beraten sein. Der vorliegende Gesetzentwurf stellt ausdrücklich eine Übergangsregelung dar, er verändert nicht – anders als die Fraktion von CDU/CSU ursprünglich wollte – das materielle Recht. In ihm ist aber – das muss an dieser Stelle ebenso klar und nüchtern festgehalten werden – die Neuregelung durch ein noch zu erlassendes Bundesgesetz bereits angelegt und als Ermessensvorschrift ausgestaltet. Die Kontingentlösung tritt demzufolge an die Stelle des individuellen Rechtsanspruchs. Davon unberührt bleiben weiterhin Härtefälle nach den §§ 22 und 23 Aufenthaltsgesetz, nach denen das Bundesministerium des Innern resp. oberste Landesbehörden aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland einzelnen Ausländerinnen und Ausländern resp. Ausländergruppen eine Aufenthaltserlaubnis erteilen können. Nicht mehr und nicht weniger.
Eine solche Härtefallregelung ist zwingend notwendig; zugleich gebietet es die Ehrlichkeit, zu verdeutlichen, dass bis dato von dieser Ausnahme – je nach Berechnung – eine zweistellige bzw. niedrige dreistellige Zahl von Fällen erfasst wurde. Es ist aus meiner Sicht unverzichtbar zu prüfen, wie schwerwiegende Fälle künftig möglichst effizient zugunsten der Betroffenen Berücksichtigung finden können, und zwar auf eine Weise, die auch tatsächlich die Realisierung des Familiennachzugs nicht auf dem Papier, aber im Leben sicherstellt.
Bei der Anwendung der Härtefallregelung müssen völkerrechtliche Prinzipien, wie sie die Europäische Menschenrechtskonvention und die Kinderrechtskonvention kodifizieren, besonderes Gewicht haben und muss das Kindeswohl absolute Priorität genießen.
Eine ganz entscheidende und kritische Frage bei der Ausgestaltung der künftigen Neuregelung in Form der Kontingentierung wird die Bestimmung eines Kriterienkatalogs und die Koordination zwischen Auswärtigem Amt, Botschaften und Konsulaten sein, wie dies auch die Anhörung des Hauptausschusses zu den vorliegenden Gesetzesentwürfen veranschaulichte.

Die Familie, von der ich soeben sprach, Mutter und Kinder interessieren sich indes nicht für Feinheiten und Techniken der Gesetzgebung, die Familie bangt verständlicherweise um den geliebten Sohn bzw. Bruder.
Mit großer Geduld und Bescheidenheit und außerordentlicher Dankbarkeit, in Deutschland sichere Zuflucht gefunden zu haben, zugleich in tiefer täglicher Sorge um den minderjährigen Sohn, hat die Mutter ein langwieriges Asylverfahren durchgestanden und die mit hoher Dynamik erfolgenden Veränderungen der Rechtslage miterlitten, miterlebt – von der auf Druck der SPD erfolgten Einführung des privilegierten Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten über die Aussetzung 2016 im Rahmen des Asylpakets II bis zur jetzigen befristeten Verlängerung der Aussetzung und Neufassung des Familiennachzugs für diese Personengruppe.
Im Gespräch werde ich ihr mitteilen und mitteilen müssen, dass die drohende immerwährende Verunmöglichung des Nachzugs abgewendet ist, dass – ungeachtet einer möglichen Härtefallausnahme oder des Rechtsweges – ab dem 01. August wieder die Chance der Wiedervereinigung der gesamten Familie besteht, dass aber aufgrund der Kontingentierung dafür keine Gewissheit in ihrem Fall gegeben ist

Auf Grundlage wesentlicher Leitlinien des nationalen wie des internationalen Rechts in Hinsicht auf Kindeswohl und Familieneinheit, ganz konkret aber im Sinne der Menschen, die es unmittelbar angeht und deren Familien – genauer: Kernfamilien –, auseinandergerissen sind, befürworte ich eine grundsätzliche Ermöglichung der Familienzusammenführung bei subsidiär Schutzberechtigten, analog zu der Lage bei Asylberechtigten und Flüchtlingen gemäß Genfer Flüchtlingskonvention. Das entspricht auch dem grundlegenden Verständnis meiner Partei und meiner Fraktion.

Wir haben aber zur Kenntnis nehmen müssen, dass die größte Fraktion des Hohen Hauses diese Bewertung nicht teilt, entschieden ablehnt und stattdessen zu einer vollständigen Abschaffung des Familiennachzugs zu subsidiär Schutzberechtigten fest entschlossen ist.
Im gegenwärtigen Parlament gibt es eine Mehrheit von Abgeordneten, die der ersatzlosen Streichung und damit endgültigen Aussetzung dieser Form des Familiennachzugs zustimmen würde. Dieses bedeutete, die getrennten Familien insgesamt auf Dauer zur Trennung zu verdammen, praktisch ohne jegliche Hoffnung auf Zusammenführung in Deutschland. Dem stehen eine klar befristete Verlängerung der Aussetzung sowie die Möglichkeit für 1000 Menschen pro Monat, wieder bei den Liebsten sein zu können, gegenüber. In summa wären dieses 12.000 pro Jahr. Schätzungen gehen von einer Bearbeitungskapazität der Auslandsvertretungen von etwa 40.000 Familiennachzugsfällen bei Asylberechtigten, Flüchtlingen nach Genfer Flüchtlingskonvention, subsidiär Schutzberechtigten und Geflüchteten mit nationalen Abschiebungsverboten insgesamt aus, davon fielen ca. 20.000 auf die Fallgruppe der subsidiär Schutzberechtigten.
Nur unter Mitwirkung der SPD, die auf einer Beendigung des dauerhaft nicht erträglichen Ist-Zustandes besteht und einen vollständigen Ausschluss des Nachzugs nicht akzeptiert, ist eine solche Kompromisslösung, die bei anderen Bündnissen oder bei offener Abstimmung mit ausgesprochen hoher Wahrscheinlichkeit nicht zustande käme, umsetzbar.

Dabei ist festzustellen: Die Behauptung, unkontrollierter Massenzuzug drohe durch die Familienzusammenführung im Falle subsidiär Geschützter, ist nicht nur sachgrundlos wider besseres Wissen, sie ist manipulativ und instrumentalisiert auf nicht hinnehmbare Weise Ängste, indem sie mit selbigen spielt und auf unwürdige Weise Personengruppen gegeneinander ausspielt.
Familiennachzugsverfahren nehmen von der Terminvergabe über die Antragstellung und die Prüfung und Abwicklung des Verfahrens in der jeweiligen deutschen Auslandsvertretung zahlreiche Monate in Anspruch. Sie verlaufen geordnet und planbar – für alle Beteiligten. Und sie verhindern, dass sich Angehörige in der Verzweiflung riskanten Fluchtrouten über Land oder das Meer aussetzen.
Formulierungen wie solche im Gesetzentwurf der AfD-Fraktion, die die Gefährdung des gesellschaftlichen Friedens und einen Kampf der Kulturen infolge des Familiennachzugs insinuieren, verdienen nur eines: klaren, unmissverständlichen Widerspruch, Entlarvung und Ächtung.
Familiennachzug ist zudem integrationspolitisch geboten und sinnvoll, gerade weil Integration eben kein technokratischer Akt, sondern ein komplexer lebensweltlicher Vorgang ist. Wer um seine Ehefrau, seinen Ehemann, seine Kinder zittert, dem fällt es deutlich schwerer, an einem anderen Ort fern der Heimat Fuß zu fassen und am gesellschaftlichen Leben frei und offen teilzunehmen.

Ich bedauere sehr, dass die Fraktion der CDU und CSU trotz ihrer christlichen Grundlagen, des humanitären Kernethos, das uns alle einen sollte, und des unüberhörbaren Appells der Kirchen nicht willens ist, sich der Position der SPD-Fraktion anzuschließen.
Mir steht es nicht zu, darüber zu richten.
An dieser Stelle ist es vielmehr meine Pflicht, mein Abstimmungsverhalten zu begründen und Rechenschaft abzulegen.
Denn diese bin ich anderen schuldig: als Innenpolitiker des Bundestages, als Person, die sich seit Jahren ausgesprochen intensiv in der Begleitung von Geflüchteten engagiert, einer Vielzahl von ehrenamtlich Aktiven eng verbunden ist, die Arbeit der Ausländerbehörden unmittelbar vor Ort eng verfolgt und kommunal als Vorsitzender des Integrationsrates Verantwortung trägt.

Mein Verständnis von Politik ist untrennbar mit Haltung, Verantwortung und Demut verbunden.
Ich habe größten Respekt vor der Haltung seitens Diakonie oder Caritas wie auch vieler Ehrenamtlicher, die sich nachdrücklich für eine Freigabe des Familiennachzugs bei subsidiär Schutzberechtigten einsetzen und mit erheblichen Zweifeln einer Kontingentlösung gegenüberstehen.
Zugleich weiß ich darum, dass viele Menschen in unserem Land meine Haltung zum Familiennachzug nicht teilen und den aktuellen Migrationsbewegungen mit Verunsicherung und Skepsis gegenüberstehen.

Politisches Handeln bedeutet oft ein sehr schwieriges Ringen zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Wie kann ich rechtfertigen, von einer aus meiner Sicht optimalen und der Menschlichkeit am meisten genügenden Regelung abzusehen? Wie könnte ich es andererseits verantworten, nicht zu einer Entscheidung beizutragen, die ab dem 01. August wieder die Tür für Familiennachzug zu subsidiär Schutzberechtigten aufmacht und so ganz praktisch endlich wieder lange Zeit getrennte Familien vereint und ihnen so die fortwährenden Ängste um den Verbleib der engsten Angehörigen nimmt?

Haltung heißt auch, denke ich, sich dieser Situation zu stellen und eine Entscheidung im Rahmen einer Güterabwägung zu treffen. Verantwortung, sagte Erhard Eppler einmal, heiße insbesondere auch, Antwort zu geben.
Ich fühle mich verpflichtet und beauftragt, diese Antwort zu geben und ihr nicht auszuweichen.
Demut kennzeichnet die Haltung so vieler, die die Frage des Familiennachzuges am eigenen Leibe betrifft und die sich seit beinahe zwei Jahren und oft noch länger mit dieser bedrückenden Lage auf höchst bewundernswerte Weise arrangiert haben.
Demut gebietet, so meine Auffassung, jetzt in Bezug auf den Gesetzentwurf zur Verlängerung der Aussetzung in der geänderten Fassung nicht einander Erfolg oder Niederlage vorzuhalten oder dieses Vokabular in den Mittelpunkt zu stellen.

Ich stimme heute dem vorliegenden Gesetzentwurf gemäß der geänderten Beschlussempfehlung des Hauptausschusses zu, weil ich den Kompromiss aufgrund meiner Haltung eines humanitären Pragmatismus nicht ablehnen kann und die Gefahr einer endgültigen Aussetzung ohne jegliche Kontingentierungen und Härtefallregelungen als nicht verantwortbar erachte – im Wissen um die Lebenswirklichkeit der Menschen vor Ort, denen ich Antwort zu geben habe und deren Zukunft maßgeblich von politischen Weichenstellungen, die wir treffen, abhängt.

Meine Arbeit für eine der Menschlichkeit und Vernunft verpflichtete Asyl- und Migrationspolitik unter Berücksichtigung des Ernstfalls vor Ort, meine Begleitung von Familien und meine Anstrengung für ein gelingendes Zusammenleben und damit auch meinen Einsatz für einen im besonderen Maße der bedrückenden Lage der Familien verpflichteten Nachzug werde ich also selbstverständlich fortsetzen.

Große Verantwortung tragen wir alle bei der Ausgestaltung des in nächster Zeit zu erarbeitenden und erlassenden Bundesgesetzes zur Neuregelung, damit es da substantielle Verbesserung schafft, wo sie ankommen muss: bei den Menschen, auf deren Leben wir damit Einfluss nehmen.
Denen, die noch längere Zeit werden warten müssen, schulden wir ehrliche, verlässliche Informationen über ihre Perspektiven.
Denen, die endlich wieder die Chance auf Familiennachzug werden nutzen können, schulden wir bestmögliche, zügige, wertschätzende Verfahren und die tätige Bereitschaft, ihnen ein würdevolles Leben unter den Bedingungen des Verlusts der Heimat zu gewähren.

Ihr Anliegen ist ganz universal, ganz persönlich und ganz einfach: Sie möchten, nachdem sie fast alles verloren haben, trotzdem, soweit es geht, ein glückliches Leben in Sicherheit führen und das möglichst nicht einsam, sondern gemeinsam mit denen, die ihnen die Wichtigsten waren und sind.“

 

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