Rainer S. oder Der Masterplan für Politikverdrossenheit

Ein offener Brief zu der Pressemitteilung von Rainer Spiecker / 25.07.2018

Sehr geehrter Herr Spiecker,

aufwachen! Wir sind im Jahre 2018. In Wuppertal gibt es seit langem eine rot-schwarze Kooperation und im Bund regiert nach Abschluss des Vertrages eine schwarz-rote Koalition. Sie scheinen aber noch im Sommer 2017 steckengeblieben zu sein und im Wahlkampfmodus zu verharren, offensichtlich im  Wahlkampf mit sich selbst. Ich bin mir auch nicht sicher, ob Sie wissen, wovon Sie reden oder ob Sie da nicht was verwechselt haben.

Womöglich habe ich Ihre aktuelle Veröffentlichung aber als Wahlkampfversuch missverstanden, und Ihre jüngste Pressemitteilung ist Satire. Sollte das der Fall sein, betrachten Sie die folgenden Ausführungen bitte als hinfällig.

Erst einmal durchatmen, nachdenken, sorgfältig recherchieren, sich informieren und Grundlagen der Logik beachten sind fünf Prinzipien, die dem gesunden Menschenverstand und guter Politik dienlich sind. Glückwunsch, Ihnen ist es gelungen, alle Prinzipien gleichzeitig zu missachten. Allerdings ist die gegenwärtige Hitzewelle auch wirklich belastend und trübt mental ein. Wie heißt es doch so schön: Vor den Erfolg haben die Götter den Schweiß gesetzt. Soll heißen: Erfolg setzt Schweiß voraus. Schweiß kommt von harter Arbeit. Die schweißtreibende Witterung hat bei Ihnen wohl den Eindruck erweckt, sich die Arbeit sparen zu können.

Offensichtlich wollten Sie es sich wieder einmal leicht machen. Bedauerlicherweise haben Sie nämlich weder die mittlerweile fünf umfassenden Papiere der Gruppe von uns 12 Bundestagsabgeordneten noch die relativ ausführliche Zusammenfassung auf Seite 4 der WZ gelesen. Literaturkritiker, die Bücher rezensieren, die sie nicht einmal gelesen haben, machen ihren Job nicht. Politiker, die über programmatische Vorschläge urteilen, die sie nicht gelesen haben und folglich gar nicht kennen,……Ergänzen Sie bitte selbst den Rest.

Hätten Sie sich die Mühe gemacht, die Dokumente wenigstens einmal flüchtig zu lesen, wäre Ihnen aufgefallen, dass es sich um einen Beitrag junger Abgeordneter zur Erneuerung der SPD und zu zeitgemäßer Politik handelt und nicht um ein Manifest zur Wuppertaler Kommunalpolitik. Es hätte Ihnen weiterhin gedämmert, dass dort ausführlich von der Frage der Reform des Sozialstaats über Fragen der Inneren Sicherheit und Bürgerbeteiligung bis zur Asylpolitik konkrete Vorschläge gemacht werden, die eines eint: die Forderung nach einem starken Staat, der das Gemeinwohl, die öffentliche Infrastruktur und die Stärkung der Kommunen in den Mittelpunkt stellt. Insofern danke ich Ihnen für Ihren misslungenen Versuch eines Kompliments, das Sie beim Schreiben gar nicht bemerkt haben.

Ich habe meine Mitstreiterinnen und Mitstreiter aus ganz Deutschland umgehend über unser Versäumnis informiert, in den Papieren nicht die Situation der Wuppertaler Toiletten gewürdigt zu haben. Ebenso fehlte das Thema bisher in den Sitzungen des Innenausschusses. Dort hat Innenminister Seehofer uns stattdessen die ganze Zeit mit dem BAMF-Skandal, Zurückweisungen an den Grenzen und seinen verbalen Aussetzern beschäftigt.

In jahrzehntelanger kommunalpolitischer Arbeit hatten Sie, Herr Spiecker, jedoch genügend zeitlichen Vorlauf, die Toilettenprobleme zielführend zu einer Lösung zu bringen. Schade, dass Sie es SPD-Kommunalpolitikern überlassen haben, sich in der Sache zuletzt wieder aktiv zu kümmern.

Gerne werde ich in der Frage, sofern Sie es wünschen, Ihre Parteivorsitzende und Kanzlerin Frau Dr. Angela Merkel, die seit fast 13 Jahren an der Spitze der Bundesrepublik steht, auf den Umstand hinweisen, dass Sie sich von ihr vernachlässigt fühlen und um Abhilfe bitten.

Fehler und Unwissen werden nicht zu Leistungen und Wissen, indem man die Fehler und das Unwissen wiederholt. Bevor Sie also ahnungslos über die Kommunikation zwischen dem Oberbürgermeister, der Wuppertaler SPD und mir, der ich mich als Dienstleister der Wuppertaler begreife, spekulieren, machen Sie sich doch einfach mal kundig. Wissen trägt gelegentlich zur Erkenntnisfindung bei. Andererseits würde ich mich umso mehr über Ihren Beitrag zur Erneuerung der CDU freuen. Folgen Sie doch dem Vorbild Ihrer Kollegen, die langsam beginnen, diesen Erneuerungsbedarf zu erkennen.

Ihr ganzes sehr angestrengtes, aber zu anstrengungsloses Bemühen wäre nicht erwähnenswert, wenn es nicht in der Wirkung so schädlich wäre. Das ist das eigentlich Traurige.

Denn Sie erweisen sich als personifizierter Masterplan für Politikverdrossenheit.

Sie bestätigen nämlich die schlimmsten, hartnäckigsten Vorurteile über Politiker. Eines lautet: Politiker interessieren sich nicht für die Wahrheit, sondern nur für sich selbst und für einander. Hätten Sie sich für Fakten anstelle von Fake-News und Effekten interessiert, wäre Ihnen aufgefallen, dass sich die bewusste Abgeordnetengruppe nicht zur Füllung des Sommerlochs gegründet hat, aber bereits am 16. März 2018 in Erscheinung trat und das erste Papier veröffentlichte. Nicht im Sommerloch, sondern inmitten der Frühlingsfülle einer Sitzungswoche in Berlin. Wir Abgeordneten in diesem Kreis haben eine ganz altmodische Idee von Politik: Wir nehmen die unmittelbaren Lebenslagen der Menschen zum Maßstab und wollen sie verbessern, wir sind nicht mit dem Ist-Zustand unserer Partei zufrieden, wir verändern sie, wir finden uns nicht damit ab, dass alles in diesem Land so bleiben sollte, wie es ist, wir benennen Fehler und korrigieren sie, anstatt sich mit platter Polemik am politischen Wettbewerber abzuarbeiten.

Die Menschen sind es so satt, Ritualen der Herabwürdigung anderer Parteien und Scheindebatten zuzuschauen. Sie erwarten vielmehr den konstruktiven Streit um die richtigen Fragen und intelligente Antworten. Kennen Sie das Wort Staatsräson? Am Ende sind das Wohl des Landes und der Stadt immer ungleich wichtiger als jedes parteitaktische Manöver. Meine Fraktion hat die letzten Wochen in Berlin damit verbracht, die Bundesregierung zu stabilisieren und als Stimme der Vernunft z.B. mit dem Asylkompromiss dazu beizutragen, dass der öffentlich zur Schau gestellte Konflikt von Herrn Seehofer und Frau Merkel Deutschland nicht in die Regierungsunfähigkeit stürzt.

Langzeitarbeitslosigkeit, Kinder- und Altersarmut, die Situation von Pflegekräften und Erzieherinnen, das Thema Integration, die Vereinsamung alter Menschen im Bangen um sichere Renten, der drohende Tod von Tausenden von Flüchtlingen im Mittelmeer …das sind die Fragen, um die es geht und die die Menschen umtreiben. Sie sprechen von der „ruhigen Zeit“. Die gönne ich Ihnen, um zur Ruhe zu kommen und Zeit zum Nachdenken zu finden. Bei mir selbst ist sie unruhig, denn ich versuche, so viel Zeit wie nur möglich in Wuppertaler Einrichtungen und Haushalten zu verbringen. Nicht minder unruhig waren die Monate zuvor in Berlin, u.a. der Kampf um Planungsmittel für das Pina Bausch Zentrum, für die Finanzierung der Jubiläen von Else Lasker-Schüler und Friedrich Engels oder auch für die Gelder und Gesetze zugunsten eines sozialen Arbeitsmarktes in Wuppertal. Der Kämmerer, Ihr Parteikollege Dr. Slawig, kann beredtes Zeugnis davon ablegen. Er interessiert sich auch dafür und kommuniziert mit mir jenseits von Pressemeldungen.

Sie sind herzlich eingeladen, sich künftig dieser guten Sitte anzuschließen.

Unsere Aufgabe ist, nicht Politik zu simulieren, sondern endlich Politik zu machen. Dazu bedarf es echter Ernsthaftigkeit.

Aufwachen, Herr S. Die alten Zeiten sind vorbei.

Mit freundlichen Grüßen

Helge Lindh

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Kommentare

  1. Bernhard Sander sagt:

    Um die Flughöhe einzuschätzen, auf der sich Lindh und die anderen 11 MdB bewegen, habe ich folgendes geschrieben:
    https://www.sozialismus.de/kommentare_analysen/detail/artikel/nimmt-der-erneuerungsprozess-der-spd-fahrt-auf/ Die Hausaufgaben bleiben allerdings zu machen.

  2. Hühnerschaf sagt:

    großartig pariert. Befürchte Wein bringt die Beiden nicht weiter sondern eher Hausaufgaben machen.

  3. Michael Bürgener sagt:

    Zum Wohle Wuppertals sollten sich die Herren Spiecker und Lindh mal
    bei einem Glas guten Weines zusammensetzen und sich über alle Wuppertal-
    relevanten Themen von den unsäglichen Toiletten bis zum Tanzzentrum Pina Bausch
    unterhalten.
    Gemeinsam könnten sie stark sein und mehr für Wuppertal erreichen, als sie denken.
    Überparteilich im Interesse der Stadt und aller Bürgerinnen und Bürger unserer schönen Stadt.
    ( Den Wein stifte ich ihnen gerne ).

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