Vermächtnisse eines Verkehrsdezernenten

Tempo 30 und die unterdrückte zweite Hälfte

An die 20 Schulkinder der GGS Kratzkopfstraße queren vor der ersten Stunde die Lüttringhauser Straße in einer einzigen Grünphase.
Foto: Die (fehlende) Anordnung von Tempo 30 im Bereich von Schulen und Kitas ist in Wuppertal teilweise so dämlich und willkürlich, daß Eltern zur Sicherheit ihrer Sprößlinge trotz Fußgängerampel einen Schülerlotsendienst einrichten müssen – wie hier auf der Lüttringhauser Straße.

Bereits seit Ende 2016 können die Straßenverkehrsbehörden (in Wuppertal: Amt 104) in der Nähe von Schulen, Kitas, Altenheimen etc. ein streckenbezogenes Tempolimit von 30 km/h anordnen (nicht zu verwechseln mit der Tempo-30-Zone). [1]
Die Verwaltungsvorschrift [2] gibt der Behörde als Segelanweisung vor, daß
– unabhängig von der Art der Straße (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen)
– im Regelfall „die Geschwindigkeit … zu beschränken“ und
– auf die Öffnungszeit der Einrichtung zu begrenzen ist, wenn
(a) diese einen direkten Zugang zur Straße hat oder
(b) an der Straße die üblichen (Fuß-) Verkehre von und zur Einrichtung auftreten. Namentlich: häufige Fahrbahnquerungen durch Fußgänger, Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern.

Tempo 30 dort, wo besonders Schüler und Ältere vermehrt auftreten

Beispielsweise wird (a) vorzugsweise an Altenheimen der Fall sein, während (b) auch eine Schule abseits der Hauptstraße sein kann, wo hier an einer Bushaltestelle eine Vielzahl an Schülern aus- bzw. zusteigt und daher auch viele Schüler die Hauptstraße queren („Pulkbildung“), vgl. Bild oben. Mit dieser Maßnahme sollen die Menschen, die die Einrichtung nutzen, vor den Gefahren im Verkehr geschützt werden. [3]

Zwei streckenbezogene Tempolimits, die bis zu 300 Meter auseinanderliegen, können auch zu einer längeren Strecke zusammengefaßt werden. [4]

Schutz für die Menschen vor Verkehrsgefahren oder für marode Schulen vor dem Zusammenfallen?

Offenbar hat die Stadt Wuppertal den Sinn der Maßnahme nicht verstanden (Zero Vision statt Vision Zero [5]) oder möchte statt Menschen die maroden Schulen vor den Erschütterung der Fahrzeuge bei Tempo 50 und damit vor dem Zusammenfallen schützen. Daß die Junior-Uni als „private“ Schule unter den Tisch fallen sollte, läßt jedenfalls diesen Schluß zu. Der damalige Oberbürgermeister Andreas Mucke mußte offenbar sein Amt 104 erst anweisen, daß vor der Junior-Uni auf der Loher Straße Tempo 30 angeordnet wird. [6] [7] [8]

Auch aktuell hält die Stadt Wuppertal offenkundig nicht viel von Sicherheit im Verkehr und läßt Teil (b) unter den Tisch fallen. Beispiele gefällig?

Herr Meyer, sind Ihnen 80 Schüler nicht genug?

Beispiel 1: Grundschule Kratzkopfstraße. Der Zugang erfolgt hauptsächlich über die 180 Meter entfernte Ronsdorfer Straße – vergleiche Bild oben. Tagtäglich queren alleine rund 80 Schüler die Ampel an der Ihringshausener Straße vor der ersten Schulstunde. Aber: Amt 104 lehnt Tempo 30 ab, weil die Schule keinen „direkten Ausgang“ zur Lüttringkuser hat. Dasselbe Geseier hören wir von wegen Hauptstraße zur Zweigstelle Ferdinand-Lassalle-Straße. [9] – Offenbar sind die Kinder auf dem Foto alle Geister, die per Luftfracht in die Schule fliegen – Helikoptereltern einmal wörtlich genommen.

Die Ampel auf der Lüttringkuser zwischen – passend! – „An den Friedhöfen“ und Kratzkopfstraße verdient eine extra Erwähnung. Nach den technischen Regelwerken hat die Haltelinie einen Meter von der Fußgängerfurt [10] zu sein. Die Anordnung nach Wuppertaler Landrecht: Die westliche Haltelinie befindet sich direkt vor der Fußgängerfurt, der östliche jenseits der Kratzkopfstraße mehrere Meter vor der Furt. Wer von den „Friedhöfen“ nach rechts abbiegt, sieht die rote Ampel entweder nicht oder bleibt mitten auf der Fußgängerfurt stehen. Wer von Osten kommt, hat ja schon bei Gelb die Haltelinie überfahren. Dann muß man auch bei Rot nicht mehr halten, oder? – In beiden Richtungen/Fällen haben die Fußgänger Grün, während noch Fahrzeuge kreuzen. Im Ergebnis müssen die Eltern zum Schutz ihrer Liebsten noch einen Lotsendienst einrichten, der sich im Notfall mit der Kelle vor der Auto schmeißt.

Pervers? Aber leider Alltag.

Zebrastreifen/FGÜ auf der Vorfahrtstraße Westfalenweg in Höhe Funkturm.
Bild 2: Während die eine Kita auf der Tempo-50-Vorfahrtstraße noch über einen halben Zebrastreifen verfügt (die andere Hälfte fehlt auch Monate nach Beendigung der Baustelle) …

Beispiel 2: Westfalenweg zwischen Nevigeser- und Hainstraße. In diesem Bereich gibt es zwei Kitas. Während die eine am Fernsehturm sogar über einen abgenutzten Zebrastreifen (auf einer Vorfahrtstraße! mit Zeichen 301) verfügt, müssen Eltern und Kinder der katholischen Kita ohne Ampel und Querungshilfe über die Straße. Selbstverfreilich für die Stadt Wuppertal auch kein Grund, hier Tempo 30 anzuordnen.

Nix Zebrastreifen, Querungshilfe oder Ampel in Höhe der kath. Kita.
Bild 3: … schaut die andere Kita in die Röhre. Ach ja: Für die Baustelle ist immer Platz – siehe Stau auf der Gegenfahrbahn.

Eine Geschwindigkeitsbeschränkung kommt an der Haltestelle Hardenberger Hof aber bereits aufgrund der besonderen Gefahrenlage in Betracht. Es ist nämlich hinlänglich bekannt, daß hier nicht nur viele Fahrgäste aussteigen und die drei Fahrspuren plus Seitenstreifen queren, sondern auch etliche Brötchenholer zwischen Auto und Bäcker. Der Unfall mit dem schwerverletzten Fußgänger Ende Januar [11] „verdeutlicht die hohe Unfallgefahr für Passanten“ (aus VO/0242/24 [12]).

Nix Zebrastreifen, Querungshilfe oder Ampel in Höhe der Haltestelle Hardenberger Hof.
Bild 4:Verkehrtausschuß lehnt Querungshilfe ab: Man müßte ja tatsächlich eine der vielen Fahrspuren für die Verkehrssicherheit opfern.

Nicht nur ist es unverständlich, daß das zuständige Amt unzuständig tut und erst die Bezirksvertretung eine Querungshilfe und (auch) vor den Kitas für Tempo 30 anregen muß. Umso absurder ist es, daß ein sog. Verkehrsausschuß in der Sitzung am 18. Juni 24 beide Ansinnen abgelehnt. Warum, geht aus dem Sitzungsprotokoll natürlich(!) nicht hervor. Interpretieren kann man das als: Die ablehnende Mehrheit hat entweder noch nie etwas von „Vision Zero“ im Verkehr gehört [3], oder dieser Mehrheit ist die Vermeidung von Verkehrsunfallopfern völlig egal.

Anmerkungen, Quellen und Verweise:

[1] Straßenverkehrs-Ordnung, § 45 Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen

(9) ¹Verkehrszeichen und Verkehrseinrichtungen sind nur dort anzuordnen, wo dies auf Grund der besonderen Umstände zwingend erforderlich ist. […] ⁴Satz 3 gilt nicht für die Anordnung von […]

Nr. 6: innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h (Zeichen 274) nach Absatz 1 Satz 1 auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) oder auf weiteren Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) im unmittelbaren Bereich von an diesen Straßen gelegenen Kindergärten, Kindertagesstätten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern, […]

Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrs-Ordnung (VwV-StVO)
Vom 26. Januar 2001 in der Fassung vom 8. November 2021 (BAnz AT 15.11.2021 B1)
https://www.verwaltungsvorschriften-im-internet.de/bsvwvbund_26012001_S3236420014.htm

[2] VwV-StVO, Randnummer 13 zu Zeichen 274 Zulässige Höchstgeschwindigkeit

Innerhalb geschlossener Ortschaften ist die Geschwindigkeit im unmittelbaren Bereich von an Straßen gelegenen Kindergärten, -tagesstätten, -krippen, -horten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen für geistig oder körperlich behinderte Menschen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern in der Regel auf Tempo 30 km/h zu beschränken, soweit

– die Einrichtungen über einen direkten Zugang zur Straße verfügen

oder

– im Nahbereich der Einrichtungen starker Ziel- und Quellverkehr mit all seinen kritischen Begleiterscheinungen (z. B. Bring- und Abholverkehr mit vielfachem Ein- und Aussteigen, erhöhter Parkraumsuchverkehr, häufige Fahrbahnquerungen durch Fußgänger, Pulkbildung von Radfahrern und Fußgängern) vorhanden ist.

Dies gilt insbesondere auch auf klassifizierten Straßen (Bundes-, Landes- und Kreisstraßen) sowie auf weiteren Vorfahrtstraßen (Zeichen 306). Im Ausnahmefall kann auf die Absenkung der Geschwindigkeit verzichtet werden, soweit etwaige negative Auswirkungen auf den ÖPNV (z. B. Taktfahrplan) oder eine drohende Verkehrsverlagerung auf die Wohnnebenstraßen zu befürchten ist. In die Gesamtabwägung sind dann die Größe der Einrichtung und Sicherheitsgewinne durch Sicherheitseinrichtungen und Querungshilfen (z. B. Fußgängerüberwege, Lichtzeichenanlagen, Sperrgitter) einzubeziehen. Die streckenbezogene Anordnung ist auf den unmittelbaren Bereich der Einrichtung und insgesamt auf höchstens 300 m Länge zu begrenzen. Die beiden Fahrtrichtungen müssen dabei nicht gleich behandelt werden. Die Anordnungen sind, soweit Öffnungszeiten (einschließlich Nach- und Nebennutzungen) festgelegt wurden, auf diese zu beschränken.

[3] VwV-StVO, Randnummer 1 zu § 1: „Die Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) regelt und lenkt den öffentlichen Verkehr. Oberstes Ziel ist dabei die Verkehrssicherheit. Hierbei ist die „Vision Zero“ (keine Verkehrsunfälle mit Todesfolge oder schweren Personenschäden) Grundlage aller verkehrlichen Maßnahmen.“

[4] VwV-StVO, Randnummer 14 zu Zeichen 274 Zulässige Höchstgeschwindigkeit

Liegt innerhalb geschlossener Ortschaften zwischen zwei Geschwindigkeitsbeschränkungen nur ein kurzer Streckenabschnitt (bis zu 300 Meter), so kommt zur Verstetigung des Verkehrsflusses eine Absenkung der Geschwindigkeit auch zwischen den beiden in der Geschwindigkeit beschränkten Streckenabschnitten in Betracht. Dieses fördert nicht nur die Verkehrssicherheit, sondern trägt auch zur Verringerung der verkehrsbedingten Lärm- und Abgasbelastung bei.

[5] https://www.njuuz.de/home/politik/lueckenschluss-der-nordbahntrasse-am-diek/

[6] »„Nicht schützenswert“: Stadt lehnt Tempo 30 vor der Junior Uni ab«, WZ vom 1. Februar 2020,
https://www.wz.de/-48688565

[7] „Oberbürgermeister Mucke: Junior Uni ist schützenswerte Einrichtung – Tempo 30 kommt“, Pressemeldung Stadt Wuppertal vom 3. Februar 2020,
https://www.wuppertal.de/presse/meldungen/meldungen-2020/februar20/tempo-30.php

[8] „Junior Uni bekommt doch eine 30er-Zone“, Radio Wuppertal vom 3. Februar 2020,
https://www.radiowuppertal.de/artikel/junior-uni-bekommt-doch-eine-30er-zone-489956.html

[9] „Kein Tempo 30 auf Lüttringhauser Straße in Wuppertal“, WZ vom 19. März 2022,
https://www.wz.de/-67313343

[10] Die Fußgängerfurt wird durch zwei gestrichelte Linien quer über die Fahrbahn begrenzt.

[11] WZ vom 31. Januar 2024: „Schwerer Unfall in Wuppertal: Fußgänger zwischen Auto und Anhänger geraten“,
https://www.wz.de/-106127173

[12] Antrag auf Prüfung zur Einrichtung einer Querungshilfe am Westfalenweg in unmittelbarer Nähe zu Haus Nr. 11 (Bäckerei Myska) – Antrag der CDU-Fraktion, VO/0242/24
https://ris.wuppertal.de/vo0040.asp

[13] Sitzung des Verkehrtausschusses vom 18. Juni 2024
https://ris.wuppertal.de/si0057.asp?__ksinr=22146

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Kommentare

  1. N. Bernhardt sagt:

    Meinen Sie den Waldorf-Kindergarten? Die Ecke kenne ich gar nicht. Richtung Vohwinkel ist T30 aus Lärmschutzgründen hinter dem Ortseingangsschild. Aber nicht an beiden Grundschulen.

    Das eine Extrem der Elterntaxis geht Hand in Hand mit dem subjektiven Sicherheitsempfinden. Ein paar Deppen reichen, die meinen bei Tempo 30 diese nach Bedarf einzuhalten und sonst 50 zu fahren, daß ein ganzer Schwung Mamas mehr ihre Kinder sprichwörtlich in die Kita fahren.

    1. Susanne Zweig sagt:

      Genau der. Den Taxidienst will ich den Eltern gar nicht vorwerfen. Die Kita liegt ländlich und wird ein großes Einzugsgebiet haben. Aber für 10 Stunden Tempo 30 anzuordnen, damit Eltern 2x am Tag leichter aus der Ausfahrt kommen, kann nicht Ziel von Vision Zero sein.

  2. Susanne Zweig sagt:

    Es gibt aber auch Gegenbeispiele.
    Vor der Kita Bahnstraße gilt z. B. seit einigen Jahren Tempo 30 von 7 – 17 Uhr. Die Kinder werden morgens auf dem ummauerten Kita-Parkplatz aus dem Auto gepackt, verbringen den Halb- oder Ganztag im Gebäude und werden nachmittags genauso wieder abgeholt.
    Kein Mensch überquert dort die Bahnstraße, wo täglich tausende Autos auf Tempo 30 runterbremsen und neu beschleunigen und alle paar Tage der Blitzerwagen der Stadt auf dem Gehweg vor der Werkstraße parkt.
    Jedes Gegenbeispiel ist ein Sargnagel für die Akzeptanz von Maßnahmen dort, wo sie gerechtfertigt sind.

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