25.04.2014Gedenkbuch Wuppertal
Zum 70.Todestag: Gedenkfeier für Hermann Steinacker
Ein Lehrer des Widerstands.
Der Anarchosyndikalist Hermann Steinacker.
von Dieter Nelles
Vor 70 Jahren, am 14. April 1944, wurde der Wuppertaler Anarchosyndikalist Hermann Steinacker im KZ Mauthausen ermordet. „Er hatte Kupfervitriol gespritzt bekommen und wußte, daß er an dem Tag dran war“, berichtete nach dem Kriege ein Mithäftling seiner Tochter. Steinacker sei „am 14. 4. um 7.30 Uhr an Bronchopneumonie im Lager verstorben“, eine „Leichenbesichtigung nicht gestattet“, teilte die KZ-Verwaltung ‚offiziell‘ der Gestapoleitstelle in Düsseldorf mit.[1]
Steinacker war mit kurzer Unterbrechung seit Oktober 1934 in den Zuchthäusern Lüttringhausen und Münstern inhaftiert. August Benner, der bis 1941 zusammen mit Steinacker im Zuchthaus Münster saß, schrieb nach dem Kriege: „Fest und unbeirrbar glaubte unser Kamerad immer an den Zusammenbruch des Naziregimes. Ruhig, ja humorvoll ertrug er seine Haft im Zuchthaus zu Münster.“[2]
Moralisch und geistig ungebrochen hatten Folter und Haft den damals 73jährigen Steinacker jedoch körperlich so geschwächt, daß er keine Treppen mehr steigen konnte. Deshalb trugen ihn seine Kameraden jeden Morgen von seiner Zelle in den Arbeitssaal im ersten Stock des Zuchthauses. Als er eines Tages während der Arbeit einschlief, war damit sein Todesurteil gefällt. Die Wärter machten darüber eine Meldung und der Zuchthausdirektor informierte die Gestapo Düsseldorf. In deren Augen galt der arbeitsunfähige Häftling als unwertes Leben und wurde deshalb im Januar 1944 in das Massenvernichtungslager Mauthausen deportiert.
Kein Straßenname, keine Gedenktafel erinnert in Wuppertal an den Anarchisten und Antifaschisten Steinacker. Nur noch wenige Menschen leben, die ihn kannten. Auf diese hat er einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen.
Hermann Steinacker wurde am 20. 11. 1870 in Odenheim, Kreis Karlsruhe geboren. Er erlernte das Schneiderhandwerk und noch während des Sozialistengesetzes schloß er sich der SPD an. Später brach er mit der Sozialdemokratie und wurde Anarchist. Im Jahre 1910 taucht sein Name in den Akten der politischen Polizei auf. Vom Berliner Polizeipräsidium, der Zentralstelle zur Überwachung des deutschen und internationalen Anarchismus, wurde er samt Photo und Hnadschriftenprobe in das „Anarchisten-Verzeichnis“ aufgenommen und seine Überwachung angeordnet.[3]
Das Bekenntnis zum Anarchismus erforderte im deutschen Kaiserreich Standhaftigkeit und Überzeugung. Die Anarchisten waren der permanenten Kontrolle und Willkür der politischen Polizei ausgesetzt: ständige Versammlungsverbote und -auflösungen; Zensur und Verbot der Zeitungen; willkürliche Hausdruchsuchungen; Druck auf Kneipenbesitzer, bei denen anarchistische Versammlungen stattfanden; Denunziationen bei Vermietern und Arbeitgebern; massiver Einsatz von Spitzeln; Verhaftungen wegen kleinster Bagatellen. Hinzu kam die politische Ausgrenzung durch SPD und Gewerkschaften, die Anarchisten nicht als politische Gegner, sondern als Feinde betrachteten. Selbst Rosa Luxemburg schrieb vom Anarchismus als der „konterrevolutionären Ideologie des Lumpenproletariats.“
Mitunter kam es auch zu handgreiflichen Auseinandersetzungen: 1913 wurden in Elberfeld Verbreiter anarchistischer Zeitungen gewaltsam aus dem Gewerkschaftshaus. Angesichts dieser Bedingungen verwundert es nicht, daß die Zahl der organisierten Anarchisten im Kaiserreich selten die Zahl von tausend überstieg. Im heutigen Wuppertal führten die Anarchisten nur ein Schattendasein am Rande der Arbeiterbewegung. Die Gruppe der Elberfelder Anarchisten hatte nur circa zehn Mitglieder. Ihre Aktivitäten blieben meist auf interne Versammlungen und den Verkauf ihrer Zeitungen -zwischen 50 und 150 Exemplaren – beschränkt. Ihr Tagungslokal war die Eckkneipe Marienstr./Wirkerstr. au dem Ölberg. Die einzige größere Veranstaltung war der Vortrag eines Berliner Referenten über Geburtenkontrolle im Jahre 1914, zu dem über 150 Zuhörer kamen.
Die antimilitaristische Propaganda war eines der zentralen Themen der deutschen Anarchisten und Syndikalisten. Im Gegensatz zu großen Teilen der SPD vergaßen diese zu Beginn des Ersten Weltkrieges jedoch nicht, daß sie in erster Linie nicht Deutsche sondern Internationalisten waren. Noch einen Tag vor Kriegsbeginn berichtete die sozialdemokratische ‚Freie Presse‘ ausführlich über Antikriegskundgebungen unter der Überschrift „Die Arbeiter aller Länder gegen den Krieg“. Am 3. August hatte der sozialdemokratische Redakteur nur noch „den einen Wunsch“, „daß die deutschen Truppen den Kampf siegreich bestehen mögen“ und am 10. August hatten die führenden Wuppertaler Sozialdemokraten sich die herrschende Kriegspropaganda vollends zu eigen gemacht, mit einem Bericht über die „Schreckenstaten der belgischen und französischen Nationalisten“. Zu diesem Zeitpunkt saß Steinacker und mit ihm acht weitere Wuppertaler Anarchisten schon zehn Tage ohne Gerichtsverfahren in „Sicherheitshaft“ im Elberfelder Polizeipräsidium. Erst im März 1916 wurde er entlassen und noch am gleichen Tage zum Militär eingezogen.
In den revolutionären Kämpfen der Jahre 1918-23 hatten die Anarchosyndikalisten einen ungeahnten Aufschwung. Auf den radikalen Teil des Wuppertaler Proletariats nahmen sie großen Einfluß. Im Jahre 1920 zählte die ‚Freie Arbeiter-Union Deutschlands (Anarcho-Syndikalisten)‘ (FAUD) im Wuppertal 1200 Mitglieder. Im größten Metallbetrieb der Stadt, den Eisenwerken Jäger (heute Kugel-Fischer) war die FAUD die dominierende Gewerkschaftsorganisation. Staatliche Repression, Massenentlassungen bei Jäger und eine allgemeine Resignation nach den verlorenen Kämpfen des Jahres 1923 ließen die FAUD wieder auf eine kleine Gruppe zusammenschrumpfen. 1933 zählte sie nur noch 40 Mitglieder. Neben der FAUD gab es Anfang der zwanziger Jahre und dann wieder seit 1929 eine sehr rege Jugendgruppe der ‚Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend Deutschlands (SAJD) in Wuppertal, der meist Kinder und Verwandte von FAUD-Mitgliedern angehörten.
Hermann Steinacker war einer der wichtigsten Personen der Wuppertaler FAUD. Seine Bedeutung lag aber wenig in der Wirkung nach außen als öffentlicher Agitator, sondern in der Stabilisierung der Bewegung nach innen. Sein Verständnis des Anarchismus war nicht auf den politischen Kampf beschränkt, sondern äußerte sich auch, in entschiedenem Engagement gegen unwürdige und autoritäre Zustände an den Schulen, in die seine Kinder gingen, in selbstverständlicher Freidenkerkultur, die auch im Alltag streitbar gegen Prüderie und religiöse Indoktrination anging und sich nicht auf Bücherschrank und die eigenen vier Wände beschränkte. Steinacker war Mentor der anarchistischen Kinder- und Jugendgruppen. Seine Schneiderstube in der Elberfelder Paradestraße war ein informeller Treffpunkt. Er saß auf dem Schneidertisch und unterhielt sich während der Arbeit mit seinen zahlreichen Besuchern. Für zwei Generationen von Jugendlichen wurde er zum Lehrer im besten Sinne des Wortes, verkörperte durch seine Person in Wort und Tat die Prinzipien des antiautoritären Sozialismus. „Er gehörte zu den wenigen Erwachsenen, von denen man Antwort auf seine Fragen bekam“ erzählte rückblickend Paula Benner.
Nach der Machtergreifung der Nazis wurde Steinacker zur zentralen Gestalt des anarchosyndikalistischen Widerstands in Wuppertal. Vergeblich hatte er in persönlichen Gesprächen versucht die Wuppertaler Partei- und Gewerkschaftsführer für einen Generalstreik zu gewinnen. Aufgrund seiner Erfahrungen während des Sozialistengesetzes gab er den Rat, die FAUD und die SAJD offiziell aufzulösen. Trotz dieser konspirativen Vorgehensweise blieben die Wuppertaler Anarchosyndikalisten von der ersten Terrorwelle der Nazis nicht verschont. Im März 1933 wurde Helmut Kirschey verhaftet und im Mai die Brüder August, Fritz und Willi Benner. Zunächst wurden Sammlungen für die Familien der Inhaftierten organisiert. Die Fäden liefen bei Steinacker zusammen. Seine Tätigkeit als selbstständiger Schneidermeister war eine gute Tarnung für die illegale Arbeit. Steinacker hielt auch die überregionalen Kontakte zu den FAUD-Genossen, die im Rheinland eine Fluchthilfeorganisation nach Holland aufgebaut hatten und von dort auch illegale Schriften bezogen.
Durch Denunziation eines Arbeitskollegen, der eine anarchosyndikalistiche Schrift von H. S. bezogen hatte, kam die Gestapo im Oktober 1934 den Wuppertaler Anarchosyndikalisten auf die Spur. H.S. wurde zu zwei Jahren und Steinacker zu einem Jahr und neun Monaten Zuchthaus verurteilt, die er in Lüttringhausen absaß.
Am 6. Juli 1936 wurde er entlassen. Zwei Wochen später erhoben sich die spanischen Arbeiter in Barcelona gegen den Putsch von General Franco. Für die deutschen Anrchosyndikalisten hatte dies eine besondere Bedeutung. Zum einen, weil ein sichtbares Zeichen gegen die fortschreitende Faschisierung Europas gesetzt wurde. Zum anderen, weil die aufständischen Arbeiter Barcelonas mehrheitlich Anarchisten waren. Der illegalen Arbeit gab dies neuen Auftrieb. Düsseldorfer Anarchosyndikalisten um Anton Rosinke und Simon Wehren aus Aachen waren in dieser Hinsicht besonders aktiv. Freiwillige für das republikanische Spanien wurden über die Grenze gebracht und Gelder gesammelt für dies spanischen Genossen. Trotzdem er gerade erst aus dem Zuchthaus entlassen worden war, begann Steinacker sofort wieder mit der Sammlung von Solidaritätsgeldern für die spanischen Genossen. Nach dem Kriege schrieb A. Benner darüber seinem Bruder: „Im Herbst 1936 war Simon Wehren bei mir und wollte eine Spanien-Hilfsaktion organisieren. Ich verhielt mich zuerst ablehnend, weil ich der Meinung war, daß wir genug damit zu tun hatten, die Faschisten im eigenen Land zu bekämpfen. Hans und Hermann nahmen die Sache aber in die Hand, und ich beteiligte mich später auch daran.“[4]Im Dezember 1936 rollte die Gestapo das Widerstandsnetz der Anarchosyndikalisten im Rheinland auf. Als erster von elf Wuppertalern wurde Hermann Steinacker im Februar 1937 festgenommen und in das Düsseldorfer Polizeigefängnis gebracht. Was er dort erleiden mußte, läßt der folgende Bericht über die Folterung seines Genossen Rosinke erahnen, der von der Gestapo in Düsseldorf ermordet wurde:
„Rosinke ist in jenen Tagen ständig zu „Vernehmungen“ in die Kellerräume des Polizeigefängnisses befördert worden, und konnte sich der dabei erlittenen Torturen wegen immer nur mühsam die Eisentreppen hinauf und hinunterschleppen. An einem dieser Februartage 1937 war der Düsseldorfer Gestapo-Kommissar Max Brosig mal mit einigen seiner Folterknechte erschienen und befahl dem diensttuenden Polizeibeamten, ihm den Untersuchungshäftling Rosinke zur „Vernehmung“ vorzuführen. Der Polizeibeamte (anscheinend vom mitleiderregenden körperlichen Zustand des schon seit Tagen mißhandelten Gefangenen nicht ganz unberührt) meldete dem Gestapo-Kommissar, der Gefangene liege regungslos auf seiner Pritsche und sei offensichtlich unfähig sich aufzurichten und fortzubewegen. Daraufhin brüllte Gestapo-Kommissar Brosig lauthals durch den Bau, wenn Rosinke nicht in zwei Minuten vor ihm stehe, werde er ihn persönlich in den Keller herunterholen. Daraufhin schleppte sich der Gefangene mühsam und stöhnend, gestützt von dem offen Mitleid empfindenden Polizisten, die Treppe herunter.“
Im Januar 1938 fand vor dem Oberlandesgericht Hamm der Prozeß gegen 88 rheinische Anarchosyndikalisten statt. Steinacker erhielt mit zehn Jahren eine der Höchststrafen. „Euer Urteil ist schon längst fertig“ – Mit diesen Worten soll er das das Urteil kommentiert haben.
Steinackers blutverschmierte Brille wurde seiner Tochter nach seiner Ermordung in Mauthausen von der Gestapo übergeben. Die Brille und ein Photo sind seine einzige materielle Hinterlassenschaft. In der Regel führten Menschen wie Steinacker kein Tagebuch, schrieben keine Memoiren. Dies war schon alleine aus Günden der Konspiration geboten, die bei Steinacker nicht erst mit der Nazi-Herrschaft begann, sondern während des Sozialistengesetzes. Darum ist es schwer ein Portrait zu zeichnen von Menschen wie ihm, die das Rückgrat jeder revolutionären Bewegung und des Widerstands gegen den Nazismus bildeten. Von denen es nicht so viele in Deutschland gab, aber doch mehr als wir wissen.
Vermutlich galt für Steinacker dasselbe, was Ernst Binder über seinen Schwiegervater Anton Rosinke in Düsseldorf schrieb. Rosinke war wie Steinacker ein Veteran der anarchistischen Bewegung des Rheinlands, wie Steinacker im ersten Weltkrieg in Sicherheitshaft und vor seiner Ermordung schon 1934 acht Tage Gestapo-Foltern ausgesetzt – mit dem Wissen, daß er dies ein zweites Mal nicht mehr durchhalten würde.
„Aber was will man machen. Entweder muß man die Hände in den Schoß legen und nichts tun, oder man muß die Gefahr des Entdecktwerdens mit allen Konsequenzen in Kauf nehmen. Für das erstere eignete sich Anton am allerwenigstens. Wenn in unserem kleinen Kreis sich die Mutlosigkeit breit machen wollte, er pulverte die Verzagten wieder auf. Rückdenkend muß ich sagen, die Situation war nicht sehr hoffnungsvoll und doch wußte er immer wieder aus den kleinsten Anlässen die Hoffnung anzufachen und das baldige Ende der Nazis zur Gewißheit zu machen. – Ein einfacher Schmied, aber ein innerlich und äußerlich sauberer Mensch, den die Flamme der innerlichen überzeugung über sich selbst hinaushob und ihm Einfluß au seine Arbeitsbrüder verlieh, der nicht durch die unterschiedlichen Doktrinen in der Arbeiterbewegung begrenzt war.“
[1]HSTAD, RW 58, Nr. 28787, Bl. 12.
[2]
Zitiert nach Ulrich Klan/Dieter Nelles: Es lebt noch eine Flamme. Rheinsiche Anarchosyndikalisten/-innen in der Weimarer Republik und im Faschismus, Grafenau-Döffingen 1986, S. 84. Soweit zitierte stellen im Text nicht anders ausgewiesen sind, beziehen sie sich auf dieses Buch.
[3]
Vgl. Polizeiakte Steinacker, in: Staatsarchiv Potsdam, Rep 30, Berlin C, Tit. 95, Sect. 8, Nr. 16578
[4]
August Benner an Fritz Benner, 17. 7. 1946, in: Internationales Institut für Sozialgeschichte Amsterdam (IISG), Nachlaß Rocker, Nr. 234.
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