Zum Wuppertaler Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus
Eine vergessene Opfergruppe. Niemand ist vergessen!
Bereits im Herbst 1942 gerieten die forensischen Patient:innen erneut in das Visier der NS-Behörden. Ab Oktober 1942 besuchten die T4-Ärzte Kurt Borm und Curd Runckel 25-30 Anstalten, um „verbrecherische Geisteskranke“, die arbeitsfähig und „nicht mehr der Anstaltspflege bedurften“, namhaft zu machen.1 Nach Wachsmann sollte die „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ entscheiden, „welche Personen nach ihrem körperlichen Zustand zum Arbeitseinsatz in Lagern geeignet“ seien.2 Den Anstaltsleitern wurde aber zugestanden, dass wichtige Arbeitskräfte zurückgehalten werden konnten. Aufgrund dieser „Gutachten“ wurden im Reichsjustizministerium Listen von arbeitsfähigen Forensik-Patient:innen angefertigt und über den Ministerialdirigenten Rudolf Marx den zuständigen Generalstaatsanwälten im März 1943 zugeschickt, die die Listen den Anstalten weiterleiteten.3
Am 10. März 1943 wies das Reichsjustizministerium die Generalstaatsanwälte an, die Auslieferung der forensischen Patient:innen vorzubereiten und betonte, dass „von psychiatrischer Seite […] in zunehmenden Maße darüber Klage geführt worden [sei], dass auf Grund von § 42 b StGB in zahlreichen Fällen in die Heil- und Pflegeanstalten Personen gelangen, die einer irrenärztlichen Anstaltsbehandlung nicht bedürfen und vielmehr Eigenart und Betrieb der Heil- und Pflegeanstalten gefährden. Dazu kommt, dass in den Heil- und Pflegeanstalten die Arbeitskraft solcher Untergebrachten nicht so ausgenutzt werden kann, wie es vor allem die gegenwärtigen Verhältnisse fordern. Es handelt sich vorwiegend um vermindert Zurechnungsfähige, also im Wesentlichen Schwachsinnige und Psychopathen, die zu den Hangkriminellen gehören. Hinzu kommen Untergebrachte, die zunächst irrenanstaltsbedürftig waren, es aber, ohne dass die Notwendigkeit ihrer Verwahrung weggefallen ist, nicht mehr sind. Im Einvernehmen mit dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren habe ich mich entschlossen, Untergebrachte, die von Psychiatern, die im Auftrag der Gesundheitsabteilung des Reichsinnenministerium tätig geworden sind, als einer irrenärztlichen Anstaltsbehandlung nicht mehr bedürftig und zu gleich arbeitsfähig bezeichnet worden sind, der Polizei zur Unterbringung in einem polizeilichen Arbeits- und Erziehungslager zur Verfügung zu stellen. Mit der Herausgabe an die Polizei soll in jedem Einzelfall die Vollstreckung der Unterbringung als unterbrochen gelten; die Wiederaufnahme der Vollstreckung bleibt vorbehalten.“4
Dem Schreiben wurden Listen beigefügt, auf denen bereits die Namen von „abgabefähigen“ Patient:innen des jeweiligen Gerichtsbezirks verzeichnet waren. Die Generalstaatsanwälte sollten als höhere Vollzugsbehörde „alsbald“ den Anstalten die Listen zuschicken. „In einem Begleitschreiben bitte ich die Heil- und Pflegeanstalten zu veranlassen, die in den Listen Aufgeführten, soweit sie tatsächlich nach § 42 b StGB untergebracht sind, der Polizei auf Anforderung herauszugeben.“5
Am 8. August 1943 folgte dann der finale Erlass des Reichsinnenministers, der den Anstalten die Übernahme der nach 42 b STGB untergebrachten Patienten durch die Polizei als Beitrag zur Säuberung der Anstalten „von unerwünschten und störenden Elementen“ ankündigte. Die Anordnung betraf alle nach § 42 b Eingewiesenen, vor allem aber solche Personen, die „einer irrenärztlichen Behandlung nicht mehr bedürfen, die vielmehr Eigenart und Betrieb der Heil- und Pflegeanstalten stören (Schwachsinnige und Psychopathen, die zu den Hangkriminellen zählen).“6 Ausgenommen waren „Arbeitsunfähige“ und für die Heil- und Pflegeanstalten unabkömmliche Arbeitskräfte.
Den Erlass hatte Herbert Linden, die zentrale Figur des T4-Mordapparats im Reichsinnenministerium, formuliert: Die Polizei habe sich „bereit erklärt, Personen, die gemäß § 42 b StGB in Heil- und Pflegeanstalten untergebracht sind, zu übernehmen. Zur Durchführung dieses Vorhabens sind die Generalstaatsanwälte von dem Herrn Reichsminister der Justiz angewiesen, sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Da die restlose Ausnutzung dieser Möglichkeit zweifellos erheblich dazu beitragen kann, die Anstalten von unerwünschten und störenden Elementen zu säubern, ersuche ich, der Angelegenheit ein besonderes Augenmerk zuzuwenden. […] Bei der wegen der Räumungsaktionen in den Anstalten herrschenden Bettennot ist von dieser Gelegenheit zur Gewinnung freier Betten weitgehend Gebrauch zu machen.“7
Zum Prozedere heißt es: Die als „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ getarnte T 4-Mordbehörde stellte erstens fest, „welche Personen nach ihrem körperlichen Zustand zum Arbeitseinsatz in Lagern geeignet sind.“8 Zweitens sei es Sache des jeweiligen Anstaltsleiters zu entscheiden, wer von der Abgabeliste z.B. als „unabkömmliche Arbeitskraft“ zurückgestellt werden sollte. Drittens sollen sich die Klinikleiter auch nach Abschluss der „Aktion“ „von sich aus mit dem zuständigen Generalstaatsanwalt wegen der Abgabe der Kranken an die Polizei“ in Verbindung setzen, wenn sie noch weitere geeignete Delinquenten „abgeben“ wollen.9
„In diesen Fällen findet eine Begutachtung der Untergebrachten durch die Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten nicht mehr statt.“10 Die Klinikleiter mussten aber vor der „Abgabe“ prüfen, ob die Patienten von ihrem körperlichen Zustand her tauglich für einen Arbeitseinsatz in Lagern seien. Auch diese „Probleme“ konnten die Klinikleiter in eigener Machtvollkommenheit lösen. Die „Abgabe“ der angeblich arbeitsfähigen forensischen Patient:innen fand ab 1943 im gesamten Reichsgebiet statt. Wie viele Patient:innen reichsweit betroffen waren, ist bisher nicht bekannt.
Der Transport vom 14. Januar 1944 nach Buchenwald
Die erste Überstellung von forensischen Patienten in ein Konzentrationslager hatte in Düren einen Vorlauf von etwa zwei Monaten. Am 12. November 1943 übermittelte der Dürener Amtsarzt, Obermedizinalrat Johannes Benze, im Namen des Staatlichen Gesundheitsamtes des Kreises Düren, dem Regierungspräsidenten in Aachen zur Weiterleitung an das Reichsinnenministerium eine erste Liste mit 83 forensischen Patienten, die zur Abgabe in die Konzentrationslager vorgesehen waren.11 Neben der Auflistung der Namen waren Geburtsdatum, Beruf und eine „Diagnose“ wie z.B. „Angeb. Schwachsinn mäßigen Grades mit Hang zu Eigentumsdelikten“ angeben.
Am 14. Januar 1944 wurden schließlich 83 Männer in das „Arbeitslager“ Buchenwald bei Weimar überführt. Die finale Liste der nach Buchenwald Deportierten hatte sich noch geändert. Vier Patienten, die noch auf der Liste von November 1943 standen, wurden aus unbekannten Gründen, durch vier andere Patienten ersetzt. Die 83 Männer aus Düren erreichten das KZ Buchenwald am 15. Januar 1944.
Die Deportation nach Buchenwald meldete die Klinikleitung den Angehörigen fünf Tage später mit einem eigenen Formular: „Auf Anordnung des Herrn Reichsministers der Justiz und des Inneren“ sei ihr Angehöriger „zur weiteren Unterbringung durch die Polizei übernommen und von dieser in das Arbeitslager Buchenwald bei Weimar überführt worden.“12
Bereits am 21. Januar 1944 wurden 81 Dürener Häftlinge ins KZ Mittelbau-Dora verlegt.13 In Dora-Mittelbau wurden über 60.000 KZ-Häftlinge beim Ausbau unterirdischer Flugzeug- und Treibstoffwerke eingesetzt. Jeder Dritte starb an den furchtbaren Arbeits- und Lebensbedingungen. In Dora-Mittelbau und deren Außenlagern starben mindestens 34 Dürener Patienten. Am 6. Februar 1944 wurden mindestens 21 Häftlinge aus Dora-Mittelbau nach Lublin/Majdanek weiterverlegt. Nach Informationen des Archivs des Staatlichen Museums Majdanek starben mindestens 15 Dürener dort. Am 27. März 1944 wurden 11 weitere Häftlinge aus Dora-Mittelbau, diesmal ins KZ Bergen-Belsen transportiert. Neun starben. Am 12. April 1944 wurden zwei weitere Personen in das Buchenwalder Außenlager Harzungen verlegt.
Einen Einblick in die Lebensverhältnisse der überstellten Gefangenen in Buchenwald und Mittelbau-Dora gibt der KZ-Häftling Friedrich Kochheim: „Zwei Tage vor Abgang des Transportes, für den auch ich bestimmt war, wurden die `Opfer´ von den SS-Schergen namentlich aufgerufen. Wir waren insgesamt 87 Mann, Alte und Junge, und es wurde mir bei diesem Appell unheimlich, als ich meine Nachbarn zur Rechten und Linken seltsame Gespräche führen hörte. Gespräche, in denen weder Sinn noch Zusammenhang erkennbar war. Nach dem namentlichen Aufruf führte man uns zur Revierbaracke, in der eine Ärztekommission auf uns wartete. Zur Dekoration lagen auf einem Tisch ärztliche Instrumente ausgebreitet, aber untersucht wurde niemand von uns. Kein Arzt stand auf und bemühte sich um uns. Man fragte pur beiläufig: `Wann geboren? Was fehlt Ihnen?´ Ab und zu gab es Gelächter bei den Ärzten, wenn eines der geistesschwachen Opfer eine törichte Antwort gab. Viele dieser Menschen kamen aus der Irrenanstalt Düren im Rheinland, eine der vielen Anstalten, deren Insassen umgebracht worden sind. Unter diesen Unglücklichen gab es auch Kriegsopfer; auch jener arme Blöde, der wegen Diebstahls eines Stückchen Brotes fast zu Tode geprügelt worden war, befand sich darunter. Als dessen Jammergestalt vortrat, gab es bei den Ärzten erneutes Gelächter. Ich hatte es einrichten können, als Letzter dranzukommen. […] Ich hatte mich einem jungen Menschen aus Dortmund angeschlossen. Dieser, Jupp, so nannte er sich, gehörte zwar zu den Kranken aus der Dürener Anstalt, er schien mir aber soweit ganz normal. Nach etwa 14 Tagen sagte er mir, dass von seinen 87 [sic] Leuten nur noch 12 am Leben seien. Später musste ich mich von diesem Menschen trennen, denn seine Geistesgestörtheit trat mehr und mehr zu Tage. […] Diese armen, gequälten Menschen sackten täglich mehr ab und viele von ihnen gingen bald zugrunde. Die mit uns gekommenen Geisteskranken wurden zu den schwersten Arbeiten im Steinbruch und im Stollen herangezogen, zu Arbeiten, denen sie in keiner Weise gewachsen waren. Dazu kam, dass diese Halb- und Ganzirren die Gefahren, die sie hier umlauerten, kaum erkannten, sie ihnen also nicht ausweichen konnten. So kamen diese Menschen in kurzer Zeit entweder durch Überarbeitung oder durch Unfälle ums Leben.“14
Anton Igel
Anton Igel, der wegen Fahnenflucht und „Zersetzung der Wehrkraft“ in Düren eingewiesen war, berichtete: „Per Zwangsjacke oder mit Spritzen wurde ich dort ruhig gestellt; Essensentzug sowie Elektroschocks sollten uns gefügig zu machen. Die Pfleger schlugen die Insassen brutal zusammen. Als noch arbeitsfähiger Psychiatriehäftling wurde ich 1944 mit der kompletten Station – ca. 80 Insassen – auf Transport in das KZ Buchenwald, von dort aus ins KZ Mittelbau-Dora bei Nordhausen in die unterirdische Rüstungsfabrik des KZs geschickt. Das Arbeitstempo, zu dem wir angetrieben wurden, war mörderisch. 12 bis 14 Stunden täglich waren die Norm. Mit Typhus und Durchfall brach ich zusammen und kam in die Krankenbaracke. Dort musste ich Morde mit ansehen. Diejenigen, die nicht mehr konnten, wurden mit einer Spritze aus Blausäure und Wasser in die Lunge gespritzt. Der Häftling bekam einen kurzen Krampf und war sofort tot.
Immer wieder frage ich mich, wie andere Kameraden und ich diese Hölle überlebten. Dies war wohl nur dadurch möglich, indem wir uns gegenseitig aufmunterten, auf jeden Fall durchzuhalten.“15 Am 21. März 1944 wurde Anton Igel von Dora-Mittelbau in das KZ Bergen-Belsen verlegt und dort 1945 von amerikanischen Truppen befreit. Trotz Krankheit engagierte er sich noch viele Jahre aktiv in der Friedensbewegung und in der Gedenkstättenarbeit.
Auszug aus:
Stephan Stracke: Transporte in die Vernichtung. Das Schicksal der forensischen Patient:innen des Dürener Bewahrungshauses in der der NS-Zeit, in: Erhard Knauer (Hrsg.): Leben in Haus 5. Die Geschichte des Bewahrungshauses in Düren: Transporte in die Vernichtung von 1940 bis 1944, Köln 2022, S. 9-107.
Arolsen Archives
1Wachsmann, Gefangen unter Hitler, S. 347 mit Bezug auf Norbert Emmerich.
2Ebd.
3Vgl. ebd. Mit Verweis auf: RJM an Generalstaatsanwälte, 10.3.1943, BArch, R 3001/alt R 22/1336, Bl. 16; vgl. auch GStA Frankfurt am Main, Antrag, 17.12.1968, ZstL, 109 AR-Nr 13.683/87, Bl. 11-33.
4RJM an Generalstaatsanwälte, 10.3.1943, BArch, R 3001/alt R 22/1336. Zitiert nach: Schröter, Psychiatrie in Waldheim, S. 180-181.
5Ebd.
6Zitiert nach: Emmerich, Die Forensische Psychiatrie 1933-1945, in: Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, S. 105-123, hier S. 116. Erlaß des Reichsinnenministers, 8.8.1943, Landesarchiv Berlin (LAB), Rep. 12, Acc 1641, Nr. 248.
7Ebd.
8Ebd.
9Ebd.
10Ebd.
11Transportliste mit Kurzdiagnosen, Obermedizinalrat Johannes Benze an den Regierungspräsidenten Aachen, 12.11.1943, LAV NRW R, BR 1029 Nr. 13, Bl. 3. Die Liste findet sich: LAV NRW R, BR 1029 Nr. 13, Bl. 4-6. Parallelüberlieferung in: LAV NRW R, BR 5 Nr. 26020.
12Prov.-Obermed.-Rat, PHP Düren, an Frau Jansen,19.1.1944, Personalakte der PHP Düren, Wilhelm Jansen.
13Erich Seiler und Julius Feldhoff wurden der Lagerstufe III zugewiesen und verblieben in Buchenwald.
14Friedrich Kochheim: Bilanz, Erlebnisse und Gedanken, Hannover 1952.
15Bericht von Anton Igel, Gedenkstätte Bergen-Belsen, KO 125.
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